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Nicht länger im Schatten

Brandenburg startet Präventionsprojekt für Kinder aus sucht- und psychisch kranken Familien

Nicht länger im Schatten stehen dürften Kinder aus sucht- und psychisch kranken Familien, sagte Brandenburgs Gesundheitsministerin.
Nicht länger im Schatten stehen dürften Kinder aus sucht- und psychisch kranken Familien, sagte Brandenburgs Gesundheitsministerin.

In einer durchschnittlichen deutschen Schulklasse haben drei bis vier Kinder mindestens einen Elternteil, der psychisch krank oder suchtkrank ist. Das belegen nicht nur Studien, sondern darauf verwiesen Brandenburgs Gesundheitsministerin Britta Müller (parteilos) sowie die Geschäftsführerin der Landesstelle für Suchtfragen Andrea Hardeling am Mittwochmorgen mehrfach. Sie stellten zusammen mit anderen das Projekt »Selbstbestimmt« in der Staatskanzlei in Potsdam vor.

Rund 56 000 Kinder im Alter von bis zu 14 Jahren wachsen in Brandenburg in einer sucht- oder psychisch belasteten Familie auf – damit nähere man sich dem Bundesdurchschnitt, sagte Müller. Rund ein Drittel der Kinder und Jugendlichen entwickele später selbst eine sucht- oder psychische Erkrankung. Um die Zugehörigkeit zu betroffenen Familien frühzeitig zu erkennen, startet nun das Präventionsprojekt »Selbstbestimmt« der Landesstelle für Suchtfragen. Gefördert wird es von den gesetzlichen Krankenkassen (GVK-Bündnis), der Auridis-Stiftung und vom Brandenburger Gesundheitsministerium. »Selbstbestimmt« richtet sich an Fachkräfte im Land.

Dazu gehören Fachkräfte in Kitas, Schulen, Jugendämtern und der Gesundheitsversorgung. Diese seien nämlich, so Hardeling, häufig überfordert. 247 Fachkräfte hat die Landesstelle für Sucht zwischen April und Mai dieses Jahres befragt. Davon hätten mehr als die Hälfte berichtet, dass sie oft oder sehr oft mit betroffenen Kindern zu tun hätten. Mehr als die Hälfte der Befragten gab an, kein Hilfsangebot im Themenfeld zu kennen. Das befragte Fachpersonal wünschte sich für die Arbeit mehr Zeit, mehr Personal, mehr Finanzierung sowie mehr Vernetzung und Angebote.

Mehr Geld in den Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen des Landes gibt es zwar nicht, aber dafür zielt das Präventionsprojekt »Selbstbestimmt« zum einen darauf ab, Fachkräfte zu stärken, zum anderen darauf, die Zusammenarbeit bestehender Akteure zu verbessern.

Die Auridis-Stiftung finanziert mit 750 000 Euro bis 2028 drei Brandenburger Kommunen, in denen die Kooperation zwischen existierenden Hilfesystemen gestärkt werden soll. Das bereitgestellte Geld der von Aldi Süd geförderten Stiftung trägt allerdings nur eine halbe Koordinierungsstelle über drei Jahre. In welchen Brandenburger Kommunen das Projekt stattfinden wird, ist noch nicht entschieden. Ziel sei es, das Konzept langfristig auf mehr als drei Kommunen auszuweiten.

Den Ansatz habe man aus Rheinland-Pfalz übernommen, so Hardeling. Was mit der Stärkung bestehender Hilfestrukturen genau gemeint ist, veranschaulichte Gesundheitsministerin Müller an einem Beispiel aus Cottbus: Dort gebe es Familienzentren, in denen Kinder den Großvater oder die Mutter zu Terminen begleiten. Dadurch könnten sich die Fachkräfte direkt einen Eindruck von den Kindern machen.

»Nicht länger im Schatten stehen« dürften die betroffenen Kinder und Jugendlichen, betonte Müller. Denn viele seien nicht unbedingt verhaltensauffällig. Von außen sei nicht zwangsläufig zu erkennen, welche Sorgen die Kinder tragen und dass viele starke Schuldgefühle entwickeln. Hardeling fügte hinzu: »Solange niemand laut schreit und randaliert«, falle nichts auf. Die meisten Kinder funktionieren anscheinend. Nur die besonders krisenhaften Fälle würden sichtbar.

Deutlich mehr Geld steht bei »Selbstbestimmt« für den Bereich Qualifizierung und Kommunikation bereit. Mit 1,7 Millionen Euro bis 2029 schult das GVK-Bündnis für Gesundheit Fachkräfte im Umgang mit den betroffenen Kindern und Jugendlichen. Auch im Umgang mit den Eltern sollen diese geschult werden. »Haben Sie Kinder, und wo sind die versorgt?« seien laut Hardeling wichtige Fragen.

Es gehe darum, dass die Fachkräfte die Situation in der Familie frühzeitig erkennen, sagte die Geschäftsführerin der Landesstelle für Suchtfragen. Es brauche aber auch mehr Angebote, die sich ausschließlich an die Kinder und Jugendlichen richten. Denn diese fehlten, beklagte Hardeling. Wichtig sei zudem, dass eine Erzieherin wisse, was passiert, wenn sie beim Jugendamt anruft, und dass Fachkräfte Kommunikationsstrategien lernen, damit betroffene Eltern offener über ihre Probleme sprechen.

Psychische Erkrankungen nehmen zu, sagte Daniela Teichert. Sie ist Vorstandsvorsitzende der AOK Nordost, die sich ebenfalls am Projekt »Selbstbestimmt« beteiligt. Auf Nachfrage, welche Hypothesen es zu dem Anstieg gebe, verweist sie auf die Ursachenforschung von Ärzt*innen. »Wir sind ja leider erst eingeschaltet, wenn es bereits Bedarf gibt«, so die Chefin der Krankenkasse. »Es ist an der Zeit, dass wir den Fokus verändern und nicht mehr nur versuchen, Krankheiten und Probleme zu therapieren, sondern auch lernen, sie zu verhindern!«

»Es ist an der Zeit, dass wir den Fokus verändern und nicht mehr nur versuchen, Krankheiten und Probleme zu therapieren, sondern auch lernen, sie zu verhindern!«

Daniela Teichert AOK Nordost

Auf die Frage nach der Zunahme psychischer Leiden verweist Brandenburgs Gesundheitsministerin Britta Müller auf Long Covid. Demnach habe die sogenannte soziale Distanz während der Corona-Pandemie dazu geführt, dass Kinder und Jugendliche nicht nur isolierter aufgewachsen seien, sondern dass sie auch weniger gut in der Lage seien, mit Konflikten umzugehen. Die Selbstwirksamkeitserfahrung fehle.

Depressionen unter Kindern und Jugendlichen nehmen zu. Das sind nicht nur Mutmaßungen, sondern zeigt sich an dem hohen Bedarf im Gesundheitssystem: »Die Wartezeit in der Kinderpsychiatrie in Brandenburg beträgt derzeit ein Jahr«, sagt Müller.

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