Fußball und Alkohol: Hoher Suchtdruck im Stadion

Fußball und Alkohol gehören für viele zusammen. Doch einige Fangruppen finden das problematisch

  • Ronny Blaschke
  • Lesedauer: 8 Min.
Selbstverständlicher Service im Stadion: Das Bier wird zum Platz gebracht.
Selbstverständlicher Service im Stadion: Das Bier wird zum Platz gebracht.

Seit mehr als vierzig Jahren besitzt Michael Krause eine Dauerkarte beim FC St. Pauli. Er hat Aufstiege und Abstiege erlebt, Hunderte Tore und Hunderte Enttäuschungen. Doch an viele Spiele kann er sich nicht erinnern. Er war schlicht zu betrunken.

Regelmäßig versackte er in einer Kneipe. Einige seiner Freunde bezeichneten ihn als »Wodkavernichtungsmaschine«, weil er so viel trank. Letztlich wandten sie sich von ihm ab, erkannten ihn kaum noch wieder. Sein gesundheitlicher Zustand verschlechterte sich. Fast hätte ihn der Alkohol das Leben gekostet.

Michael Krause erzählt seine Geschichte an einem warmen Sommerabend in der norddeutschen Stadt Oldenburg, wo sich Fußballfans zu einem Kulturfestival versammelt haben. Er steht mit anderen Diskutanten auf einer Tribüne des lokalen Stadions und blickt hinauf ins Publikum. Er spricht präzise, offen, kritisch. Man merkt schnell, dass er andere zum Nachdenken anregen möchte. Vor allem im Fußball.

Es gibt wenige Orte, an denen Alkoholkonsum so sehr akzeptiert ist wie im Stadion. Fast jeder Verein in den ersten drei Ligen hat einen Bierpartner unter seinen Sponsoren. Nun, da auch die Bundesliga an diesem Wochenende ihren Betrieb aufnimmt, beginnt für sie eine lukrative Zeit. In etlichen Stadien zapfen Verkäufer mit Rucksackbehältern das Bier direkt am Platz. Kinder und Jugendliche sind dort häufig von Betrunkenen umgeben.

»Wir verlangen nicht, dass man Bier im Stadion verbietet«, sagt Michael Krause. »Aber wir treten dafür ein, dass Fans ihren Alkoholkonsum kritisch hinterfragen.« Er selbst hatte sich erst spät dazu durchringen können. Begab sich in Therapie und ist nun seit 18 Jahren trocken.

Rückkehr ins Stadion als Abstinenzler

Den FC St. Pauli wollte sich Krause nicht nehmen lassen. Aber skeptisch war er schon, als er nach dem Entzug wieder ins Stadion ging. Überall sah er die Bierwerbung und grölende Fans. Rettung fand er bei den »Weiß-braunen Kaffeetrinker*innen« – einem Netzwerk trockener St. Pauli Fans, das 1996 von zwei Therapiepatienten gegründet wurde.

»Es ist ein wunderbares Gefühl, ins Stadion zu gehen und nicht allein zu sein«, sagt er. Die »Weiß-braunen Kaffeetrinker*innen« verfolgen die Heimspiele gemeinsam, und sie treffen sich auch sonst in ihrer Freizeit. Häufig sprechen sie gar nicht über ihre frühere Alkoholabhängigkeit, aber manchmal eben doch. Zum Beispiel, wenn sie Infoveranstaltungen organisieren oder »Entgiftungsstationen« besuchen, in denen Abhängige betreut werden.

Marion Albers kennt diese Momente der Versuchung. Seit fünf Jahren ist sie trocken und begleitet regelmäßig Fans nach deren Entzug zurück ins Stadion. Mitunter komme es vor, erzählt das Mitglied der »Weiß-braunen Kaffeetrinkerinnen«, dass diese Fans in der bierseligen Umgebung dann einen »Suchtdruck« empfinden und die Tribüne wieder verlassen wollen. »Dann ziehen wir uns zurück und sprechen darüber«, sagt sie. »Da viele von uns im Fanclub ähnliche Erfahrungen gemacht haben, können wir uns gut in die Lage hineinversetzen.«

Die »Weiß-braunen Kaffeetrinker*innen« sind als Selbsthilfegruppe etabliert. Neulich, sagt Albers, habe sie den Anruf einer Mutter erhalten, die mit Sorgen auf den Alkoholkonsum ihres 18-jährigen Sohnes blicke. Ein anderes Mal meldete sich eine Gruppe, in der ein junger Fan betrunken sei und »eskalieren« würde. Albers nimmt sich Zeit für solche Gespräche, in der Hoffnung, dass Anhänger nicht in die Abhängigkeit geraten.

Alkohol ist gesellschaftlich akzeptiert, wird oft kaum als Droge wahrgenommen. Dabei sterben in Deutschland jährlich rund 15 000 Menschen an den Folgen ihres Alkoholkonsums. 1,6 Millionen Menschen sind abhängig. Obwohl die Zahl so hoch ist, stoßen die politischen und zivilgesellschaftlichen Initiativen gegen die Alkoholindustrie seit Jahrzehnten auf Widerstände. Und der milliardenschwere Profifußball ist ein Sinnbild dafür.

Der FC St. Pauli schloss 2019 eine Partnerschaft mit einem Whiskeyhersteller aus den USA. In einer Mitteilung wurde Vereinspräsident Oke Göttlich mit folgenden Worten zitiert: »Diese Kooperation zeugt von großem Vertrauen in den Verein und zeigt, dass der FC St. Pauli auch für internationale Marken ein attraktiver und verlässlicher Partner ist.« Eine Delegation des Klubs besuchte die Brennerei in Tennessee.

Marion Albers und Michael Krause waren fassungslos und sind es noch heute. 2019 verteilten die »Weiß-braunen Kaffeetrinker*innen« zum ersten Mal Flugblätter gegen die offensive Werbung von alkoholischen Getränken im Stadion. Sie wurden von Fans beschimpft und als Spaßverderber verhöhnt, aber sie erhielten auch Zuspruch und Spenden. Eine Punkband widmete ihnen einen Song.

Bald darauf brachten sie sich in den Mitgliederversammlungen des Vereins ein. In Anträgen forderten sie die Einführung von alkoholfreien Getränkeständen und das Verbot von mobilen Verkäufern. Zunächst wurden ihre Anliegen abgelehnt. Auch mit der Begründung, dass man während der Covid-Pandemie nicht auf Einnahmen verzichten könne.

Doch die »Weiß-braunen Kaffeetrinker*innen« blieben hartnäckig und konnten einen bemerkenswerten Erfolg erzielen: Der Verein hat ein Präventionskonzept verabschiedet. Verkaufsstände ohne Bierausschank gibt es nun im Stadion, die Trainer im Nachwuchs werden sensibilisiert und der Klub will künftig »Verfügbarkeit, Werbung und Image von Alkohol kritisch hinterfragen«.

Ob sich daraus ein Paradigmenwechsel entwickelt, wird sich zeigen. Aber immerhin hat zum ersten Mal ein Profiklub offiziell anerkannt, dass Alkohol im Fußball ein Problem sein kann. Andere Vereine beobachten das Vorhaben von St. Pauli mit Interesse – manche mit Skepsis, andere mit der stillen Hoffnung, dass sich auch bei ihnen etwas bewegen könnte.

Verbindungen zur Bierindustrie

Doch die Realität holt die Idealisten oft immer wieder ein. In Deutschland geben Brauereien jährlich fast eine halbe Milliarde Euro für Werbung aus. Viele Spots und Anzeigen bilden junge Erwachsene ab, die ein positives Lebensgefühl vermitteln sollen und dabei eine Bierflasche in der Hand halten. Besonders präsent sind solche Motive während der Welt- oder Europameisterschaften. Zeitweilig war eine Bierbrauerei sogar Partner der öffentlich-rechtlichen »Sportschau«.

Eine Fernsehdokumentation des Westdeutschen Rundfunks arbeitete 2022 die Verbindungen zwischen Fußball und Bierindustrie heraus. Und sie dokumentierte die Vorstöße gegen deren Einfluss: 2008 setzte sich die damalige Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Sabine Bätzing, gegen die Werbung im Sport ein. 2022 stießen zahlreiche EU-Abgeordnete eine ähnliche Initiative an. In beiden Fällen schlugen Fußballvereine und Biersponsoren zurück. Sie verwiesen auf Arbeitsplätze in ihren Unternehmen und auf die Beliebtheit des Bieres.

Und so hört man die lauteste Kritik weiterhin an der Basis, fernab der Vereinsstrukturen. In jüngerer Vergangenheit haben sich auch in den anderen Städten abstinent lebende Fans zusammengeschlossen. Da gibt es beim 1. FC Union Berlin zum Beispiel »Nüchtern betrachtet, mehr vom Spiel«. Oder »Klar Schiff« beim Hamburger SV. In Kaiserslautern sucht der langjährige FCK-Fan Jens Neufeld, der seit zwölf Jahren trocken ist, nach Mitstreitern für einen möglichen neuen Fanclub. Der geplante Name: »Coffee Devils«.

Diesen Schritt der Gründung hat »Schalke Null Bier« in Gelsenkirchen bereits hinter sich. Die Initiatorin Katharina Strohmeyer hat in ihrer Jugend erleben müssen, wie Familienmitglieder an ihrer Alkoholsucht starben, ihr Großvater an Leberzirrhose, da war sie 14.

Katharina Strohmeyer lehnte Alkohol lange ab. Aber während ihrer Pubertät wollte sie sich auch zugehörig fühlen, im Handballverein, in der politischen Jugendorganisation. »Ich habe niemanden gefunden, der irgendwie cool war, aber nicht gesoffen hat«, sagt sie. Also gehörte Alkohol fortan doch in ihrem Leben dazu, vor allem bei ihrem Lieblingsklub im Fußball.

Das Stadion des FC Schalke 04 ist nach einer Biermarke benannt und verfügt über eine der längsten Zapfanlagen der Welt. Rund 30 000 Liter werden bei einem Heimspiel verkauft. »Wir wollen niemandem das Bier wegnehmen«, sagt Katharina Strohmeyer. »Aber wir möchten in einem Umfeld Fußball schauen, in dem man trinken kann, wenn man möchte, aber nicht muss.« Immer wieder kommt es vor, dass sie im Stadion zwanzig Minuten für ein Wasser ansteht, während das Bier wesentlich schneller verfügbar ist.

Katharina Strohmeyer und die anderen Mitglieder von »Schalke Null Bier« treffen sich regelmäßig. Demnächst wollen sie eine Hotline anbieten, an die sich Fans mit einem Suchtproblem wenden können. Ihr Einsatz spricht sich mittlerweile herum. Neulich wurde sie von einer Fernsehredaktion gefragt, ob sie für eine Sendung alkoholfreies Bier testen würde. Sie lehnte ab. »Wenn Leute ein Suchtproblem hatten, dann kann auch alkoholfreies Bier zu einem Rückfall führen«, sagt Strohmeyer. »Weil der Geschmack und der Geruch Erinnerungen an früher wecken können.«

Noch mangelt es bei vielen Fußballklubs an Hintergrundwissen dazu. Auch deshalb luden die »Weiß-braunen Kaffeetrinker*innen« im Juni alle abstinenten Fanclubs nach Hamburg ein. Dort sprachen sie auch über andere Suchtkrankheiten, über Drogen, Spielsucht oder Medikamentenmissbrauch. Und sie blickten in andere Länder: nach Frankreich, wo Alkoholwerbung im Sport verboten ist. Oder nach England, wo der Bierkonsum auf den Tribünen untersagt ist.

Trotz der Bemühungen bei St. Pauli, mehr auf die Suchtgefahren zu achten, gab es in der vergangenen Saison vor dem Heimspiel gegen Leverkusen einen Rückschlag: Der Biersponsor des FC St. Pauli verteilte vor dem Stadion kostenlos ein neues Mischgetränk mit 2,5 Prozent Alkoholgehalt. »Das war verantwortungslos und führt das Präventionskonzept ad absurdum«, sagt Michael Krause.

Seit bald 20 Jahren ist er mittlerweile trocken. Vorbei sind die Zeiten, da er in Kneipen versackte und sich nicht mehr an die Spiele erinnern konnte. Die »Weiß-braunen Kaffeetrinker*innen« haben ihm gezeigt, dass Leidenschaft für den Fußball keinen Alkohol braucht. Die Tore seiner Mannschaft können ihn trotzdem in einen Rausch versetzen.

Wir haben einen Preis. Aber keinen Gewinn.

Die »nd.Genossenschaft« gehört den Menschen, die sie ermöglichen: unseren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die mit ihrem Beitrag linken Journalismus für alle sichern: ohne Gewinnmaximierung, Medienkonzern oder Tech-Milliardär.

Dank Ihrer Unterstützung können wir:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ Themen sichtbar machen, die sonst untergehen
→ Stimmen Gehör verschaffen, die oft überhört werden
→ Desinformation Fakten entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und vertiefen

Jetzt »Freiwillig zahlen« und die Finanzierung unserer solidarischen Zeitung unterstützen. Damit nd.bleibt.

- Anzeige -
- Anzeige -