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Flucht nach vorn
Frankreichs Premierminister François Bayrou stellt wegen Sparplänen die Vertrauensfrage
Aller Wahrscheinlichkeit nach wird die französische Regierung am 8. September fallen. Das war die Quintessenz einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz von Premierminister François Bayrou am Montagnachmittag in Paris. Dabei kündigte er überraschend an, dass er für Montag in zwei Wochen eine Sondersitzung des Parlaments mit Regierungserklärung und nachfolgender Vertrauensfrage anberaumen wird. Ausdrücklich betonte der Regierungschef, dass dieses Vorgehen mit Präsident Emmanuel Macron abgesprochen sei.
Sparen auf Kosten der Sozialausgaben
Angesichts des breiten Widerstands gegen den Budgetentwurf für 2026 war damit zu rechnen, dass die linke Bewegung La France insoumise (LFI) am 23. September im Parlament einen Misstrauensantrag gegen die Regierung einbringt und dass dieser diesmal – anders als bei mehreren derartigen Versuchen in den zurückliegenden Monaten – auch durch das rechtsextreme Rassemblement National (RN) unterstützt wird und dadurch die nötige Mehrheit bekommt. Den größten Widerspruch findet die Absicht der Regierung, im Staatshaushalt 44 Milliarden Euro einzusparen, denn das soll vor allem auf Kosten der Sozialausgaben geschehen, während die Konzerne und die reichsten Franzosen weitgehend verschont werden. Den heftigsten Widerstand gibt es gegen das Vorhaben, zwei gesetzliche Feiertage zu streichen und die Beschäftigten an diesen Tagen zugunsten der Staatskasse arbeiten zu lassen. Gegen diese Pläne haben sich in Umfragen 84 Prozent der Franzosen ausgesprochen.
Um ihre Gegenaktionen für einen »heißen Herbst« zu koordinieren, wollten die großen Gewerkschaften am 1. September zusammenkommen, doch angesichts der neuen Lage werden sie diesen Termin jetzt vorziehen. Außerdem sieht sich die Regierung einer drohenden Massenbewegung gegenüber, die – wie 2018 die Gelbwesten – spontan in der Bevölkerung entstanden ist und sich mithilfe der sozialen Netze ausgebreitet hat. Diese Bewegung »Lasst uns alles blockieren!« (Bloquons tout) soll am 10. September über einen Generalstreik hinaus das gesamte wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben des Landes lahmlegen und so die Regierung und den Präsidenten in die Enge treiben. Dieser Entwicklung wollte der Premierminister offensichtlich zuvorkommen und darum ist er jetzt die Flucht nach vorn angetreten.
»Er hat begriffen, dass er auf ein Desaster zugeht und wollte dem durch einen möglichst ehrenhaften Abgang zuvorkommen«, fasste die Zeitung »Le Monde« den Eindruck vieler politischer Beobachter zusammen. Die Reaktionen auf Bayrous Pressekonferenz stützen diese Einschätzung, denn sowohl LFI als auch RN haben sofort betont, dass sie der Regierung auf keinen Fall das Vertrauen aussprechen werden. Eine vage Hoffnung verband sich anfangs noch mit den Sozialisten, um die der Premier mittels einiger Zugeständnisse in seinem Budgetentwurf geworben hatte und die den Erfolg des Misstrauensantrags eventuell hätten infrage stellen können. Doch diese Hoffnung zerschlug sich noch am Montagabend durch die Ankündigung des PS-Vorsitzenden Olivier Faure, dass seine Partei der Regierung auf keinen Fall das Vertrauen aussprechen werde.
Präsident Macron ist der Hauptverantwortliche
Die angekündigte Vertrauensfrage des Premiers hat der LFI-Gründer Jean-Luc Mélenchon in einem Interview Dienstagfrüh begrüßt, denn damit komme man »auf die bewährten republikanischen Sitten und Gebräuche zurück«. Er räumte ein, dass Bayrou nicht persönlich verantwortlich sei für die desolate Situation, in der sich das Land befinde. »Das sind die politisch Verantwortlichen vor ihm mit ihrer falschen Wirtschafts- und Sozialpolitik«, sagte Mélenchon, »und vor allem Präsident Emmanuel Macron, der diese politische Richtung vorgegeben hat.« Außerdem kündigte Mélenchon an, dass LFI außer dem wahrscheinlich inzwischen überflüssig gewordenen Misstrauensantrag auch einen Antrag auf Amtsenthebung von Präsident Macron stellen wird. In diesem Zusammenhang wiederholte der LFI-Politiker seine bereits wiederholt vorgetragene Forderung, aufgrund der Wahlergebnisse von 2024 einem Mitglied seiner Bewegung den Posten des Premierministers anzutragen und ihn mit der Regierungsbildung zu beauftragen. Dass es dazu kommt, ist allerdings höchst unwahrscheinlich.
Frankreich steht ab September eine Zeit voll politischer Ungewissheit bevor. In diesem Zusammenhang hat die RN-Spitzenpolitikerin Marine Le Pen bereits vom Präsidenten die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen gefordert. Zweifellos soll das nur eine Etappe zur Vorverlegung auch der Präsidentschaftswahlen sein, für die sie sich große Chancen ausrechnet. Vorausgesetzt, die Justiz gibt ihr das passive Wahlrecht zurück, das ihr 2024 im Prozess um die illegale Entlohnung von RN-Parteimitarbeitern auf Kosten des Europaparlaments für fünf Jahre entzogen wurde.
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