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Deutliche Schlagseite in deutscher Nahost-Berichterstattung
Eine Auswertung von 5000 Überschriften deutscher Leitmedien zeigt: Israels Militär und Regierung sind omnipräsent
Deutsche Leitmedien verlassen sich bei ihrer Berichterstattung über den Nahen Osten vor allem auf offizielle Angaben Israels. Sämtliche palästinensischen und libanesischen Quellen sowie alle zum Nahen Osten aktiven internationalen Organisationen und NGOs zusammen schaffen es nicht einmal halb so oft in die Schlagzeilen deutscher Nachrichten wie Israels Regierung und Armee allein. Das ist ein Ergebnis einer Auswertung von 4853 Nachrichtenbeiträgen in deutschen Leitmedien zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 19. Januar 2025 – dem Tag einer von Israel damals wieder gebrochenen Waffenruhe.
Untersucht wurden dazu die »Tagesschau« als größtes deutsches Nachrichtenformat, die »Bild« als größte Tageszeitung, die »Zeit« als größte Wochenzeitung und der »Spiegel« als größtes Nachrichtenmagazin. Das Ergebnis fällt eindeutig aus: Von den untersuchten Schlagzeilen ließen sich 43,3 Prozent auf israelische Quellen, aber lediglich 5,0 Prozent auf palästinensische Angaben zurückführen.
Bei Informationen aus weiteren Ländern der Region sieht es nicht besser aus. Sämtliche libanesischen, iranischen, jemenitischen und syrischen Quellen zusammen brachten es in den sechzehn Monaten der Untersuchung auf 293 Überschriften (6,0 Prozent).
Vergleichsweise häufig schafften es indes Angaben von Israels engstem Verbündeten in die Schlagzeilen. Informationen aus US-amerikanischen Quellen machten 12,0 Prozent der Überschriften aus – das sind ähnlich viele Schlagzeilen wie alle Angaben aus sämtlichen 57 mehrheitlich arabischen und muslimischen Staaten zusammen.
Neben der Neigung zu israelischen Quellen springt eine Vorliebe zu staatlichen Angaben ins Auge. 72,5 Prozent der untersuchten Überschriften gehen auf Aussagen von Regierungen, Geheimdiensten und Militärs zurück. Um Vergleichbarkeit zu schaffen, zählen für diese Analyse auch staatsähnliche Akteure wie die Hamas, Palästinensische Autonomiebehörde, Hisbollah und Huthis zu dieser Kategorie. Am größten ist die Affinität zu staatlichen Angaben demnach bei der »Zeit« (79,1 Prozent), am geringsten bei der »Bild« (59,5 Prozent). Bei letzterer liegt das vor allem am hohen Anteil an Boulevard-Geschichten à la »Hamas wollte Kopf von getöteten Soldaten verkaufen«, die die Redaktion oft aus israelischen Medien übernimmt.
Demgegenüber basieren nur 194 Überschriften (4,0 Prozent) auf offiziellen palästinensischen Angaben – und das, obwohl die Glaubwürdigkeit dieser Angaben zu Opferzahlen, anders als jene der israelischen Armee, mehrfach durch die Vereinten Nationen, NGOs sowie wissenschaftliche Untersuchungen bestätigt wurde.
Auch andere Quellen für palästinensische Opferzahlen wie palästinensische Ärzt*innen, Krankenhäuser und Rettungskräfte finden kaum Berücksichtigung. In sechzehn Monaten Berichterstattung von »Tagesschau«, »Spiegel«, »Zeit« und »Bild« schafften sie es gerade einmal in zehn von 4.853 Schlagzeilen (0,2 Prozent).
Nahezu nicht existent ist das Interesse deutscher Nachrichtenredaktionen an Informationen der dutzenden internationalen NGOs, die im Gazastreifen aktiv sind. Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen, Save the Children, Oxfam oder die deutsche Hilfsorganisation Cadus produzieren jeden Tag wertvolle und umfassende Informationen. Hinzu kommen die zahlreichen Berichte und regelmäßigen Statements von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, Human Rights Watch oder B’Tselem. In sechzehn Monaten Berichterstattung schafften es ihre Informationen in lediglich 55 von 4853 Schlagzeilen (1,1 Prozent).
Angaben aus palästinensischen Medien vor Ort fanden sich gerade einmal in sechs (0,1 Prozent) Überschriften wieder. Rechnet man noch die fünfzehn Fälle hinzu, in denen es Medienangaben aus dem Libanon und 22 aus Medien aller anderen mehrheitlich arabischen Ländern in Überschriften schafften, kommt man auf 43 Überschriften, die auf arabischen Medienberichten basieren.
Aus journalistischer Sicht verwundert auch dieses Ergebnis, da Medien wie die palästinensische Nachrichtenagentur Wafa oder der TV-Sender Al-Jazeera regelmäßig sehr schnell und umfassend berichten und über ein unvergleichliches Netz an Korrespondent*innen und Kontakten in der Region verfügen.
Dieses Desinteresse gegenüber den Informationen, die palästinensische und libanesische Reporter*innen sowie die gesamte arabische Medienlandschaft täglich bereitstellen, ist vielleicht das deutlichste Zeichen dafür, dass deutsche Nachrichtenredaktionen nicht gewillt sind, ihrem Publikum ein präzises Bild der Ereignisse im Nahen Osten zu vermitteln.
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