JVA Ottweiler: Warum starb Nelson?

Nach dem Tod eines 15-jährigen Inhaftierten haben Aktivist*innen schwere Vorwürfe gegen die Gefängnisbeamten geäußert

  • Paulina Rohm
  • Lesedauer: 7 Min.
Rund zwei Wochen nach dem Tod von Nelson in der Justizvollzugsanstalt Ottweiler sind bei einer Demonstration rund 180 Menschen durch den saarländischen Ort gezogen.
Rund zwei Wochen nach dem Tod von Nelson in der Justizvollzugsanstalt Ottweiler sind bei einer Demonstration rund 180 Menschen durch den saarländischen Ort gezogen.

Fünf Wochen Einzelhaft, Videoüberwachung, dann der Tod: Was am 1. August in der Zelle des 15-jährigen Nelson Dil de Sousa Bulica in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Ottweiler geschah, bleibt ungeklärt. Während die Staatsanwaltschaft von Suizid ausgeht, sprechen Aktivist*innen von einem Muster institutioneller Gewalt gegen Schwarze* Menschen in Haft. Sie stützen sich auf die Aussagen von Mitgefangenen, wonach Nelson kurz vor seinem Tod von Justizbeamten misshandelt worden sei.

Die saarländische Justizministerin Petra Berg (SPD) stellte sich jedoch hinter die Beamten. In einer Sondersitzung des Rechtsausschusses mahnte sie, die JVA-Beschäftigten nicht pauschal zu verdächtigen. Es gäbe keinen Grund zur Annahme, dass die Beamt*innen für den Tod des 15-Jährigen verantwortlich seien oder sich rassistisch verhalten hätten.

Aktuell laufen allerdings mehrere Ermittlungsverfahren gegen vier Beamte der JVA Ottweiler, ausgelöst durch Anschuldigungen von Nelsons Mitinsassen. Sie werfen den Beschäftigten Körperverletzung vor – auch gegenüber Nelson. Laut dem Aktivisten Mzee Maat Onyango von »Children of the Diaspora for Afrika« bestätigte dies auch Nelsons Vater. »Sein Vater hat sein Gesicht nicht einmal wiedererkannt«, sagte er auf Instagram. Auch Onyango, der im engen Kontakt mit der Familie steht, zweifelt an einem Selbstmord.

Viele Aktivist*innen und Gruppen kritisieren das Schweigen vieler Medien und organisierten am 17. August eine Demonstration in Gedenken an Nelson in Ottweiler. Auch Nelsons Vater stellte eine Strafanzeige und verlangt die Aufklärung der tatsächlichen Todesursache seines Sohnes. Die Obduktion, mit der auch die Todesursache Anfang August festgestellt wurde, ergab im Gegensatz zu den Aussagen von Mitinhaftierten keine Hinweise auf Fremdeinwirkung durch Gewalt, berichtete die »Saarbrücker Zeitung«.

Kein unabhängiges Gutachten

Die ohnehin schwierige Aufklärung dieser Ungereimtheiten wird zusätzlich erschwert, weil Nelsons Leiche ohne Benachrichtigung seiner Familie eingeäschert wurde. An die Öffentlichkeit gelangte dies durch einen Beitrag von Onyango und Glenda Obermuller am 21. August auf Instagram. Die beiden Anwälte der Familie hätten versucht, schnellstmöglich ein unabhängiges Gutachten in die Wege zu leiten. Dann hätten sie jedoch erfahren, dass Nelsons Leiche bereits eingeäschert wurde. »Das ist sehr traurig und tragisch und wirft viele Fragen auf«, sagte Onyango. Zwar habe die Familie aus finanziellen Gründen einer Einäscherung zugestimmt, allerdings habe man ihnen keinen konkreten Zeitpunkt dafür mitgeteilt.

»Dieser sehr frühe Zeitpunkt der Einäscherung und die unterlassene Benachrichtigung der Familie sind äußerst fragwürdig«, kritisierte Berty Luyeye-Mbuka von dem Verein »Afro-deutsche Jurist*innen gegenüber dem «nd». Er hofft nun darauf, dass die Amtsärzt*innen alle für die weiteren Ermittlungen wichtigen Beweise bei der bisherigen Obduktion gesichert haben.

Dies beteuerte Saarbrückens Oberstaatsanwalt Thomas Schardt. Für die Einäscherung sei die Familie verantwortlich, erklärte er gegenüber der «Saarbrücker Zeitung». Die Familie und ihre Anwälte hätten nach der Obduktion bis zur Bestattung keine Anträge für weitere Gutachten gestellt. Eine erneute Obduktion, beispielsweise anlässlich neuer Untersuchungsergebnisse, ist nun nicht mehr möglich.

Dabei seien weitere Informationen für die Ermittlungen im Rahmen des laufenden Strafverfahrens überaus wichtig. Luyeye-Mbuka wies darauf hin, dass die «eigenverantwortliche Selbstgefährdung» Nelsons untersucht werden müsse. Denn auch wenn es sich um einen Suizid handele, bleibe offen, ob die Gründe für diese Selbsttötung nicht einen Rückschluss auf weitere Verantwortliche für Nelsons Tod zuließen.

Der Jugendliche war aufgrund eines Sicherungshaftbefehls in der JVA. Unbekannt ist, weshalb er unter besonders restriktiven Haftbedingungen festgehalten wurde – fünf Wochen lang war er gesondert und mit zusätzlicher Videoüberwachung «sicher verwahrt». Die Staatsanwaltschaft hält aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes und laufender Ermittlungen weitere Informationen zurück.

Rassistische Motive?

Nelson soll Körperverletzungen und Beleidigungen durch Justizvollzugsbeamte erlitten haben, das sagen Mitinsassen aus. Außerdem soll er gehungert haben. Eine Kombination dieser Umstände stelle im Falle eines tatsächlichen Suizids die Eigenverantwortung des Jungen infrage, erörterte Luyeye-Mbuka. Eine Untersuchung dieser Selbstverantwortlichkeit müsse deutlich machen, «dass Nelson zum Zeitpunkt seines Todes bei klarem Verstand war und dass der Suizid von ihm selbst gewollt war». Der Jurist hält an der Unabdingbarkeit einer lückenlosen Aufklärung fest. «Die Vergangenheit hat gezeigt, dass in mehreren Fällen die rassistische Komponente nicht mitbedacht wurde.»

Als warnendes Beispiel für unvollständige Aufklärung verwies der Jurist auf den Fall Oury Jalloh, der sich 2005 in einer Zelle des Polizeireviers Dessau selbst entzündet haben soll. Nachdem der Bundesgerichtshof im Jahr 2010 den Freispruch der verantwortlichen Beschäftigten aufgehoben hatte, wurde 2012 das Urteil der fahrlässigen Tötung des Gruppendienstleiters gesprochen. 2017 stand dann der Mordverdacht im Raum, weil ein weiteres Gutachten Indizien für die Benutzung von Brandbeschleuniger nahelegte. Das Verfahren wurde jedoch kurz danach wieder eingestellt. Ein Jahr später setzte der Landtag Sachsen-Anhalt Sonderermittler ein, um polizeilichen Rassismus zu untersuchen. Das Ergebnis des Sonderberichts 2020 war: vermehrte Missstände im Hinblick auf Rassismus in polizeilichen Maßnahmen und Verfahren. Darauf folgten dann jedoch keine bedeutsamen Konsequenzen.

Nicht aufgeklärt ist auch der Brand in der Zelle von Ferhat Mayouf. Der Algerier starb im Juli 2020 in der Berliner JVA Moabit. Trotz des Verdachts auf Fremdeinwirkung wurden in diesem Fall ebenfalls die Ermittlungen eingestellt.

Offene Fragen bleiben auch nach dem Tod von Rasmane Koala aus Burkina Faso. Nach mehr als zwei Jahren Isolationshaft starb er am 9. August 2014 in der JVA Bruchsal an Unter- und Mangelernährung. Der Anstaltsleiter kam damals seiner Pflicht nicht nach, das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz über die Essensverweigerung durch Koala zu informieren, obwohl er davon wusste. In diesem Fall folgte ein Strafverfahren für den Anstaltsleiter und die Anstaltsärztin wegen fahrlässiger Tötung. Das Verfahren wurde jedoch eingestellt – ein Muster, das sich in ähnlichen Fällen wiederholt.

Ein Grund für diese häufig ergebnislosen Ermittlungen war eine zu geringe Beweislast. Das liegt möglicherweise auch daran, dass nur selten Beamt*innen gegen Kolleg*innen aussagen. Studien, die das Meldeverhalten von Justizvollzugsbeamt*innen in Deutschland untersuchen, gibt es bisher nicht. Aufschlussreich ist aber eine Untersuchung der «Organisation für Freiheitsrechte» zum Whistleblowing bei der Polizei. Auch wenn die Studie nicht repräsentativ ist, legt sie doch nahe, dass der Korpsgeist in den Behörden nach wie vor stark ausgeprägt ist. Polizist*innen würden dadurch an der Aufdeckung und am Einschreiten bei Fehlverhalten in den eigenen Reihen gehemmt.

Dieses strukturelle Problem könnte nun auch die Ermittlungen in Nelsons Fall behindern. Vor diesem Hintergrund sehen Aktivist*innen in Nelsons Tod ein systemisches Problem, das immer wieder zu gewaltvollen Tötungen Schwarzer Menschen in Haft, in Polizeigewahrsam und auf der Straße führe. «Diese Gewalt ist kein Versagen des Staates – Sie ist Teil seiner rassistischen Funktionsweise», ordnete eine Aktivistin der Initiative «Gerechtigkeit für Lorenz» Nelsons Tod und die Vorwürfe gegen die JVA-Beschäftigten mit einem Redebeitrag auf der Demonstration in Ottweiler ein. Auch das Magazin «Africa live» stellt die anklagende Frage: «Wie kann es sein, dass ein 15-jähriger Schwarzer Junge in staatlicher Obhut stirbt – und niemand verantwortlich gemacht wird?»

Die kommenden Monate werden zeigen, ob die Ermittlungen gegen die vier JVA-Beamten zu einer gerichtlichen Aufarbeitung führen. Parallel dazu bleibt abzuwarten, ob Nelsons Familie ein zivilrechtliches Verfahren gegen das Land Saarland anstrebt, um auf diesem Weg Schadensersatz und weitere Aufklärung zu erreichen.

Unabhängig vom juristischen Ausgang hat Nelsons Tod inzwischen doch eine öffentliche Debatte über die Haftbedingungen Jugendlicher und den Umgang mit rassismuskritischen Fragen in der Justiz angestoßen. Die Demonstration in Ottweiler und die mediale Aufmerksamkeit auch an der Trauerfeier am Montag zeigen, dass die Zivilgesellschaft nicht bereit ist, solche Fälle stillschweigend hinzunehmen.

* «Schwarz» wird hier als politischer Begriff verwendet und wird deshalb großgeschrieben. Er beschreibt keine äußerlichen Merkmale von Menschen, sondern ihre Erfahrungen als von Rassismus betroffenen Personen.

«Sein Vater hat sein Gesicht nicht einmal wiedererkannt»

Mzee Maat Onyango
«Children of the Diaspora for Afrika»
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