Haltungsschäden sind schlecht fürs Rückgrat

Für Sheila Mysorekar ist »Haltungsjournalismus« etwas Positives

»Neutralität« im Journalismus – Haltungsschäden sind schlecht fürs Rückgrat

Im deutschen Journalismus sind Pro-und-Contra-Formate sehr beliebt. Man lässt zwei Personen miteinander diskutieren, die gegensätzliche Meinungen vertreten, oder man publiziert zu einem Thema zwei Artikel mit zwei verschiedenen Ansichten. Das klingt erstmal nach einer guten Idee. Das Medienhaus nimmt damit eine neutrale Position ein, indem es einfach die Arena öffnet für die Debatte. Und Debatten brauchen wir in einer lebendigen Demokratie.

Ebenso verfährt in zunehmendem Maße die Berichterstattung. Es wird über ein Thema berichtet und der oder die Journalist*in zitiert verschiedene – oft verfeindete – Akteure, aber ohne dies weiter einzuordnen; die Berichterstattung soll ja objektiv sein. Das Publikum soll sich selbst eine Meinung bilden, wer recht hat. Auch das klingt erstmal positiv.

De facto sieht es anders aus: Die Debattenformate haben zu einer »False Balance« geführt. Es ist ein Problem, wenn immer zwei Leute mit gegensätzlichen Ansichten eingeladen werden, auch bei Themen, wo es nicht um Meinungen geht, sondern um harte wissenschaftliche Fakten wie den Klimawandel. Der allergrößte Teil der Wissenschaft ist sich einig, dass es den Klimawandel gibt und dass er menschengemacht ist. Nur ein klitzekleiner Prozentsatz von Forschern stimmt damit nicht überein. Wenn nun aber in Talkshow und Streit-Formaten zwei Leute für jeweils Pro beziehungsweise Contra sitzen, bekommt das Publikum den Eindruck, dass 50 Prozent der Wissenschaftler*innen den Klimawandel als Tatsache anerkennen, und 50 Prozent nicht. In Wirklichkeit aber ist das Verhältnis 99 Prozent zu ein Prozent. Das heißt, es wird ein falscher Eindruck von Ausgewogenheit hergestellt – »false balance« –, wo eigentlich ein ganz anderer Sachverhalt besteht.

Mit anderen Worten: Die sogenannten Streitformate sollten besser über Probleme diskutieren. Oder über Meinungen. Nicht aber Fakten zur Debatte stellen.

Sheila Mysorekar

Sheila Mysorekar ist Vorsitzende der Neuen Deutschen Organisationen, einem Netzwerk postmigrantischer Organisationen. Für »nd« schreibt sie die monatliche Kolumne »Schwarz auf Weiß«. Darin übt sie Medienkritik zu aktuellen Debatten in einer Einwanderungsgesellschaft.

Auch andere Themen sollte man keinesfalls ergebnisoffen diskutieren, zum Beispiel die Menschenrechte. Da kann, da darf es kein Für und Wider geben, weil sonst die Basis des menschlichen Zusammenlebens in Frage gestellt wird. Ein Tiefpunkt war 2018 ein Pro und Contra in der »Zeit« zum Thema Seenotrettung unter dem Titel »Oder soll man es lassen?« Der damalige stellvertretende Chefredakteur Bernd Ulrich entschuldigte sich später für den Titel, der den Eindruck erweckte, die Rettung von Menschenleben sei verhandelbar. Nicht alles ist ein legitimer Standpunkt in einer Debatte.

Dennoch haben diese Pro-und-Contra-Formate eher zugenommen, in der irrigen Annahme, dass die Mitte zwischen zwei extremen Positionen »neutral« sei. Das ist jedoch nicht der Fall. Wenn es um Demokratie, Menschenrechte oder das Grundgesetz geht, müssen Journalist*innen Position beziehen.

Gerade beim Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk nehmen viele Leute an, dass dieser zur »Neutralität« verpflichtet sei. Aber davon steht gar nichts im Medienstaatsvertrag, sondern dort heißt es, dass die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zur Gewährleistung einer »unabhängigen, sachlichen, wahrheitsgemäßen und umfassenden Information und Berichterstattung« verpflichtet sind. Der SWR stellt klar, dass »unabhängig und wahrheitsgetreu« nicht dasselbe ist wie neutral. Ein*e Journalist*in kann sehr wohl wahrheitsgetreu sagen, dass Präsident Donald Trump über den Ausgang der US-Wahlen von 2020 lügt, oder dass die AfD rechtsextrem ist. Medienschaffende müssen Partei ergreifen – nämlich für die Wahrheit.

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Wenn in Beiträgen beispielsweise Menschenrechtsverletzungen an den Grenzen gegenüber Geflüchteten als solche benannt werden, dann werden Journalist*innen oft von Rechten diffamiert, indem man ihnen »Haltungsjournalismus« unterstellt. Aber wieso ist das eigentlich was Negatives? Ich finde es super, wenn Leute eine Haltung haben. Zum Beispiel eine Haltung bezüglich Menschenrechte (= gut) oder Menschenrechtsverletzungen (= schlecht). Oder Faschisten (= richtig Scheiße).

Es gibt zu viele Medienleute – vor allem in der Leitungsebene –, die keine Haltung zu, sagen wir mal: rechten Krakeelern haben. Und wann immer Redakteur*innen vom rechtsextremen Mob mit Hassmails überschwemmt werden, lassen diese Chefredakteure oft ihre eigenen Leute im Stich. Aber nicht nur in der Orthopädie, sondern auch im Journalismus gilt: Haltungsschäden führen zu einem krummen Rückgrat.

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