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Digitalisierung: »Die menschliche Arbeit ist die Magie«
Ein Gespräch mit Krystal Kauffman über die Beschäftigten, die Künstliche Intelligenz und digitale Plattformen zum Laufen bringen
Sie sind seit vielen Jahren als Data Worker tätig. Wie sind Sie zu dieser Arbeit gekommen und was waren Ihre Aufgaben?
Im Jahr 2015 bekam ich ernsthafte gesundheitliche Probleme. Ich konnte nicht mehr außerhalb meines Zuhauses arbeiten, und Remote-Arbeit war zu dieser Zeit schwer zu finden. Bei meiner Suche stieß ich auf eine Website namens Amazon Mechanical Turk (AMT). Dabei handelt es sich um eine Datenverarbeitungsplattform, auf der Personen oder Unternehmen (Auftraggeber) zu erledigende Aufgaben auflisten und Arbeiter*innen sich für die Erledigung dieser Aufgaben anmelden. Als ich mit der Datenverarbeitung begann, war AMT die wichtigste Plattform. Viele der großen Technologieunternehmen, zum Beispiel Google, nutzten sie. Meine Aufgaben konnten beispielsweise akademische Umfragen sein oder das Markieren bestimmter Dinge auf Luftbildern, wie Pools oder nistende Kraniche. Eines Tages erhielt ich den Auftrag, Grenzübergänge zu markieren, aber keine herkömmlichen. Gesucht wurden Fußpfade oder Reifenspuren in einer abgelegenen Gegend. Nachdem ich mehrere Aufgaben erledigt hatte, begann ich mich zu fragen, warum ich damit beauftragt worden war. Ich fragte mich, ob ich dafür verantwortlich war, dass Menschen Hilfe erhielten, oder ob ich dafür verantwortlich war, Menschen zu schaden. Wurden Menschen festgenommen? Da begann ich, Datenarbeit mit anderen Augen zu sehen.
Wie hat sich die Datenarbeit im Laufe der Jahre verändert?
Ähnlich wie in anderen Branchen hat sich auch hier das Arbeitsvolumen verändert. In den letzten Jahren sind im Internet immer mehr kleine Plattformen für Datenarbeit entstanden. Anstatt auf einer zentralen Plattform tätig zu sein, müssen die Arbeiter*innen nun zwischen Aufträgen auf mehreren Plattformen hin und herspringen, um ihre Rechnungen bezahlen zu können. Auch die Aufgaben sind gleichförmiger geworden. Heute konzentrieren sich die meisten auf maschinelles Lernen und KI.
Krystal Kauffman ist Datenarbeiterin (Data Worker) und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Distributed AI Research Institute (DAIR). Sie ist ehemalige Hauptorganisatorin von Turkopticon, einer gemeinnützigen Organisation, die sich für die Rechte von Datenarbeiter*innen engagiert. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Kooperationspartnerin hat sie eng mit dem Weizenbaum-Institut in Berlin zusammengearbeitet. In letzter Zeit war sie an dem Community-Forschungsprojekt Data Workers’ Inquiry (data-workers.org) beteiligt.
Wie viele Stunden mussten Sie pro Tag arbeiten, um ein ausreichendes Einkommen zu erzielen?
Das war sehr unterschiedlich. Ich war auf diese Arbeit angewiesen, um meine Miete, meine Rechnungen und alles andere zu bezahlen. Ich habe mir Tagesziele und auch Wochenziele gesetzt. Wenn es am Montag nicht viel Arbeit gab, wusste ich, dass ich den Rest der Woche jeden Tag Überstunden machen musste. Die Wahrheit ist, dass ich meinen Computer nie wirklich ausgeschaltet habe, weil es so viel Unsicherheit gab. Jederzeit konnte eine besser bezahlte Arbeit angeboten werden. So kam es auch zu den langen Arbeitszeiten. Ich ließ meinen Computer sogar nachts eingeschaltet. Ich stellte Alarme ein, die klingelten, wenn bestimmte Aufträge ausgeschrieben wurden. Wenn sie losgingen, stand ich auf und arbeitete. Selbst wenn ich nicht zu Hause war, suchte ich auf meinem Handy nach Arbeit. Ich kenne viele Data Worker, die in der Schlange im Supermarkt auf ihrem Handy gearbeitet haben. Man brennt sehr schnell aus, aber man steckt auch in diesem Kreislauf der Abhängigkeit fest.
Wie kamen Sie mit anderen Datenarbeiter*innen in Kontakt, und wann haben Sie angefangen, sich zu organisieren?
Als ich mit der Datenarbeit begann, erfuhr ich von Online-Gruppen, in denen sich Arbeiter*innen trafen, um Tipps auszutauschen und Kontakte zu knüpfen. Einige der Menschen, die ich in diesen Gruppen kennengelernt habe, gehören heute zu meinen besten Freunden. Organizing kam ins Spiel, als sich mein Gesundheitszustand etwas stabilisierte. Ich konnte einen Schritt zurücktreten und meine Arbeit aus einer gewissen Distanz betrachten. Wie bereits erwähnt, störte mich vor allem der Auftrag zu den Grenzübertritten. Ich begann, Dinge zu bemerken, wie zum Beispiel, dass meinen Kolleg*innen im Globalen Süden für die gleiche Arbeit weniger bezahlt wurde. Meine Kolleg*innen in den die Bevölkerungsmehrheit repräsentierenden Ländern waren regelmäßig traumatisierenden Inhalten ausgesetzt, oft ohne Vorwarnung. Anfang 2020 wurde ich von einer Gruppe namens Turkopticon (TO) gefragt, ob ich mich dem Team anschließen wolle, um Datenarbeiter*innen zu organisieren und für sie einzutreten. TO wurde von zwei Doktorand*innen gegründet und begann als Ort, an dem Arbeiter*innen Bewertungen von Auftraggeber*innen und Aufgaben hinterlassen konnten. Es war eine Art Frühwarnsystem. Im Laufe der Jahre sollte TO von einem akademisch geführten Projekt in eine von Arbeiter*innen geführte und geleitete Organisation umgewandelt werden. Ich begann damit, die Bewertungen zu moderieren, und wurde etwa ein Jahr später leitende Organizerin, die andere Arbeiter*innen kontaktierte und sich mit Amazon auseinandersetzte. Kurz vor meinem Ausscheiden expandierte TO, um allen Arbeiter*innen auf allen Plattformen zu helfen.
Dann sind Sie vom Organizing zur Forschung übergegangen ...
Ja, ich arbeite jetzt hauptberuflich als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Distributed AI Research Institute (DAIR). Ich habe dort vor fast zweieinhalb Jahren angefangen. Der Kontakt zu Forscher*innen und Fürsprecher*innen auf der ganzen Welt war eine wunderbare und aufschlussreiche Erfahrung.
Wozu forschen Sie derzeit am DAIR?
Meine Forschung konzentriert sich auf die menschliche Arbeit, die in die KI einfließt und die damit verbundene Ethik. Mein Hauptprojekt ist die Data Workers’ Inquiry (DWI). Dabei handelt es sich um ein Community-basiertes Forschungsprojekt, bei dem Datenarbeiter*innen mitwirken und eigene Untersuchungen an ihren Arbeitsplätzen durchführen. Wir adaptieren Marx’ Fragebogen für Arbeiter von 1880 an Datenarbeiter*innen, die für KI-Anwendungen unverzichtbar sind. Dieses Projekt hat viele verschiedene Probleme ans Licht gebracht: AMT »bezahlt« einige Arbeiter*innen mit Amazon-Geschenkkarten statt mit Bargeld, es gibt Lohndiebstahl, psychische Probleme aufgrund der Moderation gewalttätiger und traumatisierender Inhalte und vieles mehr. Es geht nicht nur darum, aufzudecken, was vor sich geht, sondern auch darum, den Prozess zu beobachten, wie Arbeiter*innen Solidarität aufbauen und Organisationen gründen, um es mit Tech-Unternehmen aufzunehmen.
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DAIR erklärt auch, dass KI nicht unvermeidlich ist ...
Absolut. Wir glauben, dass KI in der Regel nicht die Lösung ist und dass ihre Weiterentwicklung nicht unvermeidlich ist. Letztendlich liegt es an uns allen, die Zukunft zu gestalten, die wir uns wünschen. Wir konzentrieren uns in unserer Arbeit auf die Überzeugung, dass KI-Werkzeuge integrative Technologien sein sollten, die der Gemeinschaft zugutekommen.
In den Nachrichten klingt es so, als würde sich die Lage für Arbeiter*innen in den USA weiter verschlechtern, während die großen Technologieunternehmen immer mehr Macht gewinnen ...
Manchmal sieht es beunruhigend aus und fühlt sich auch so an, aber eines können die derzeitige Regierung und die Technologieunternehmen nicht tun: Diese Arbeit weiterhin verbergen. Während das Weiße Haus mit den CEOs der Technologieunternehmen unter einer Decke steckt, bildet diese Arbeitskraft eine separate Einheit. Die Unternehmen möchten den Menschen glauben machen, dass KI Magie ist, dass die Dinge gelernt haben zu funktionieren. Aber die menschliche Arbeit ist die Magie. Ohne sie würden Produkte, die Menschen täglich nutzen, aufhören zu existieren. Ich bin jetzt hoffnungsvoller denn je. Wir erleben ein beispielloses Wachstum von Organisationen, Gewerkschaften, Verbänden und Interessenvertretungen sowohl in den USA als auch weltweit. Die Öffentlichkeit wird sich der Datenarbeiter*innen und ihrer Arbeitsbedingungen bewusst. Nichts bleibt für immer verborgen.
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