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Schloßstraße in Berlin: Boulevard des Leerstands
Ein Rundgang durch Steglitz zeigt die Konsequenzen der Auto- und Investorenfixiertheit auf
Von historischen Meilensteinen ist auf den Steglitzer Seiten des Stadtportals berlin.de ganz stolz die Rede. Da wird zum Beispiel gefragt, ob man denn zum Beispiel wisse, wo Preußens erste gepflasterte Straße gebaut wurde. Antwort: In Steglitz natürlich. Ab 1791 wurde die Potsdamer Chaussee vom Berliner Schloss zur Sommerresidenz Friedrich Wilhelms II in Potsdam ausgebaut. Das Teilstück, das durch den heutigen Bezirk Steglitz-Zehlendorf führt, wurde später Teil der Reichsstraße 1, die von Aachen bis nach Litauen führte. Heutzutage heißt sie Schloßstraße und ist jedem Kind bekannt – durch das 1935 veröffentlichte Gesellschaftsspiel, das jeden zum Kapitalisten macht: Monopoly.
Beides, die Berliner Straßenbaugeschichte und die Geschichte des Geldes, hat den Bezirk städtebaulich geprägt, und das nicht immer zum Besseren. Davon ist der Bezirksverordnete Dennis Egginger-Gonzales überzeugt. Er sitzt für die Linke im Ausschuss für Stadtentwicklung und beschäftigt sich mit den Besitzverhältnissen und der Straßenbauplanung rund um die Schloßstraße. »Wenn man diese Auswirkungen im Stadtbild einmal gesehen hat, kann man das auch nicht mehr übersehen, wenn man durch den Bezirk geht«, sagt er. Am Mittwochabend führt er etwa 20 interessierte Anwohner*innen zu diversen Stationen entlang der Schloßstraße und erklärt, wem dieser Teil der Stadt zurzeit gehört und wie Entscheidungen der vergangenen Jahre zu einem Stadtbild des »durchschnittenen Kiezes« geführt haben. Die Veranstaltung ist Teil einer Reihe von Rundgängen in Berlin, organisiert von Helle Pranke e.V., dem Bildungsverein der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Das Thema: »Verfehlte Stadtplanung und der Immobilienwahnsinn zwischen Bierpinsel und Steglitzer Kreisel.«
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Den Wahnsinn möchte Eggers-Gonzales am Objekt zeigen. Als erste Station wählt er die Shopping-Mall »Boulevard Berlin« an der Ecke Schloßstraße-Schildhornstraße. Ein Einkaufszentrum, das 2012 eröffnet wurde und über eine Verkaufsfläche von 64 000 Quadratmetern verfügt. Die Gesamtfläche ist mehr als doppelt so groß und entfällt zu nicht unerheblichen Teilen auf 850 Stellplätze in der Parkgarage. Laut Eggers-Gonzales ein erster Irrsinn, da die Garage selten mehr als zu 20, vielleicht 30 Prozent ausgelastet sei. Das gelte für sämtliche Parkgaragen rund um die Schloßstraße mit insgesamt etwa 3000 Plätzen. Offizielle Zahlen zur Auslastung der Parkanlagen gibt es nicht. Doch als Mitglied im Stadtplanungsausschuss sei er seit anderthalb Jahren fast täglich hier unterwegs und sehe sich die Anzeigetafeln an, die an den Garagen angebracht sind. Seine Erfahrung: »Selbst zu typischen Stoßzeiten sind hier am Boulevard 650 von 800 Parkplätzen frei.«
Überhaupt sei die Schloßstraße mit ihren zahlreichen Einkaufszentren völlig überdimensioniert. Das verdeutlicht Eggers-Gonzales beispielhaft im »Boulevard Berlin«, als die Gruppe im Erdgeschoss an zahlreichen leeren Ladenflächen vorbeigeht: »Man versucht hier noch, den Eindruck zu erwecken, als sei das eine funktionierende Shopping Mall«, sagt er und deutet auf die großen Plakatwände, die die Illusion von eingemieteten Geschäften vermitteln sollen. Der schwierige Stand des stationären Einzelhandels werde gerne mit der Corona-Zeit begründet, von der man sich nicht erholt habe. Tatsächlich aber habe man hier »die Situation völlig überreizt und sich selbst kannibalisiert.« Drei große Malls, mehrere Kaufhäuser und große Filialen von Kaufland und Primark gibt es inzwischen zwischen Bierpinsel und Steglitzer Kreisel. Tatsächlich geht es keinem der Einkaufszentren gut. Das Schloßstraßen-Center befindet sich seit vergangenem Jahr sogar im Insolvenzverfahren. »Wir quersubventionieren das alles«, sagt Eggers-Gonzales, denn Leerstand lässt sich steuerlich absetzen.
Die neueste Idee: Mixed Use, also gemischte Standortnutzung. Die hinter den Malls stehenden Kapitalgesellschaften wollen Büroflächen an ihre bereits riesigen Gebäude anbauen. Und das, obwohl der Berliner Büroflächenmarkt schon übersättigt ist. Es gibt mehr Angebot als Nachfrage. Eggers-Gonzales möchte nicht, dass die öffentliche Hand solche fehlgeleiteten Entwicklungspläne subventioniert oder gar wirtschaftlich angeschlagene Standorte riesiger Kapitalgesellschaften rettet. Er wünscht sich stattdessen eine Rekommunalisierung, zum Beispiel in Form eines Stadtteilzentrums.
Doch wie herankommen an solche Flächen? Dass die öffentliche Hand wenig Handhabe hat, zeigt sich sogar in Fällen spekulativen Leerstands, also wenn Objekte bewusst ungenutzt bleiben, um zum Beispiel Wertsteigerungen abzuwarten. Egger-Gonzales möchte das am Beispiel des futuristisch-poparchitektonischen »Bierpinsels« in der Schloßstraße verdeutlichen, der nächsten Station des Rundgangs. Die »Pommesbude der Herzen« wurde 1976 als Restaurant eröffnet, wechselte mehrmals die Besitzer und gehört seit 2021 der Immoma-Gruppe, die die Gastronomie dort wiederbeleben will. Der Besitzer sucht jedoch seit Jahren Investoren für seine Vision von »Wertschöpfung durch Wandel«. Ursprünglich sollte 2025 wiedereröffnet werden, doch nun heißt es, die Entwicklung werde doch mindestens weitere vier Jahre dauern. Die Suche nach Investoren und Probleme wie Rohrbrüche oder Asbest würden die Planungen immer wieder verzögern. »Es gibt immer wieder Probleme, aber nichts, was den Leerstand so lange erklären würde«, sagt hingegen Eggers-Gonzales. Er geht daher von spekulativem Leerstand aus: Anders als bei Wohnraum, bei dem das Zweckentfremdungsverbot greift, gibt es hier keine rechtliche Handhabe, den Besitzer zum Tätigwerden zu verpflichten. So ergibt sich ein Patt: Der Bezirk kann gegen den Leerstand nicht vorgehen, und Immoma erwirtschaftet keine Gewinne, entwertet aber den Kiez. Der Verdacht also: Man wolle den Bezirk dazu bringen, die Immobilie aus dem Erbbauvertrag zu entlassen. Dieser garantiert nämlich, dass das Grundstück, auf dem der »Bierpinsel« steht, im Besitz des Bezirks verbleibt.
Dass ursprüngliche Nutzung, fehlende Handhabe und unterschiedliche Entwicklungsvorstellungen zu Lasten des Bezirks auseinanderklaffen, sieht Eggers-Gonzales auch im Straßenbild: Wenige Meter südöstlich vom »Bierpinsel« verläuft die A103, vom Kreuz Schöneberg kommend und dann parallel zur Schloßstraße quer durch Steglitz. Nur wenige Unterführungen lassen es zu, auf die andere Seite zu gelangen. »Hier sieht man auch wieder super, wie die Autobahn den ganzen Kiez durchschneidet.« Die einzige Option, das zu verbessern, sei ein Rückbau zu einer normalen Fahrstraße. Das große Problem: Gerade in Steglitz kommen oft drei verschiedene Akteure zusammen. Der Bund ist für Autobahnen zuständig, der Senat für wichtige Verkehrsstraßen und der Bezirk für alle anderen. Ein gemeinsames städtebauliches Ziel zu erreichen, ist entsprechend schwierig.
Die Herausforderungen, »eine der bedeutendsten Einkaufsstraßen in der ganzen Bundesrepublik« – wie der Bezirk die Gegend um die Schloßstraße nennt – wieder belebter und lebenswerter zu machen, scheinen riesig. Auch Eggers-Gonzales gibt zu, dass der Weg heraus aus der autofixierten und von Investoren getriebenen Stadt Jahrzehnte dauern wird. »Doch er muss gegangen werden. Und er kann gegangen werden.« Die öffentliche Hand müsse den angeschlagenen Kapitalgesellschaften sagen: »Wir nehmen euch diese Lasten ab, aber viel bekommt ihr dafür nicht.«
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