»Urban Gullies« in Afrika: Gefährliche Schluchten

»Urban Gullies« sind eine wachsende Bedrohung für Stadtbewohner im tropischen Afrika

Betroffene Häuser eines Erdrutsches an dieser Stadtschlucht in Mont Ngafula im Großraum Kinshasa
Betroffene Häuser eines Erdrutsches an dieser Stadtschlucht in Mont Ngafula im Großraum Kinshasa

Koboko ist eine Stadt im Nordwesten Ugandas nahe der Grenze zur Demokratischen Republik (DR) Kongo und dem Südsudan. Früher glich sie mehr einer ländlichen Siedlung, die lediglich dadurch bekannt war, dass der ehemalige Diktator Idi Amin von einer Farm aus dem Umland stammte. Seit einigen Jahren wächst Kaboko in rasantem Tempo. Die Einwohnerzahl wird mittlerweile auf rund 68 000 geschätzt. Dabei ist die Lage der Stadt besonders, da das Zentrum auf einem langgestreckten Hügel liegt und sich neue Viertel an den teils steilen Hängen ausbreiten. Hier kann ein Phänomen beobachtet werden, das in vielen Städten eine ernsthafte Gefahr darstellt: die Bildung städtischer Erosionsschluchten.

Wissenschaftler der Universität Trento (Italien) wählten im Jahr 2017 Koboko für das erste Forschungsprojekt zu den – im Fachjargon – »Urban Gullies«. In den vergangenen zehn Jahren hätten sich hier insbesondere beim Bau neuer Straßen mehrere Rinnensysteme mit einer Tiefe bis zu acht oder gar zehn Metern gebildet, schrieben die Autoren in der von der Unesco geförderten Untersuchung. Die Schluchten befänden sich in dicht besiedelten Gebieten und stellten für die Anwohner Sicherheitsrisiken sowie hygienische Risiken durch unbehandelte Abwässer und unkontrollierte Müllentsorgung dar. In der Studie ging es um die Schaffung einer Methodik zur Quantifizierung der Schluchten, zu Entstehungsprozessen und konkreten Risiken, da das Thema Neuland war.

Dieser Tage ist im Fachjournal »Nature« die erste umfangreiche Untersuchung erschienen – sie beziffert das Ausmaß der Stadtschluchten am Beispiel der DR Kongo. Das Team um den Geomorphologen Guy Ilombe Mawe (Universität Bukavu, Kongo) und den Umweltforscher Matthias Vanmaercke (Universität Leuven, Belgien) wertete Satellitendaten aus und verknüpfte diese mit Schätzungen zur Bevölkerungsdichte. Nach den Berechnungen wurden zwischen 2004 und 2023 schätzungsweise 118 600 Menschen in dem Land durch urbane Gullies vertrieben.

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Den Autoren zufolge bilden sich die schluchtähnlichen Formationen typischerweise in Städten, die auf sandigen Böden gebaut sind und über keine ausreichende Entwässerung verfügen. Anfällig für Wassererosion, können sich die Gullies bei aufeinanderfolgenden Regenfällen stark ausdehnen. Verschärft wird das Problem durch mangelhafte Stadtplanung und die Ersetzung von Vegetation durch undurchlässige Oberflächen wie Straßen und Dächer, wo sich bei starken Regenfällen Wasser sammelt. »Straßen werden zu großen Kanälen, die sich in Flüsse verwandeln«, erläutert Mitautor Vanmaercke. Wenn die Entwässerungssysteme unzureichend seien, grabe das Wasser in ungeschütztem Boden tiefe Löcher, die sich über Hunderte von Metern erstrecken könnten.

Mit der Zeit verschlingen die Gullies auch Häuser und Geschäfte. Die Ausbreitung der Erosionsschluchten können katastrophale und sogar tödliche Folgen haben, sagt Mitautor Mawe. Familien, die in der Nähe leben, hätten oft keine sicheren Alternativen. In Kongos 16-Millionen-Hauptstadt Kinshasa, wo sich die städtischen Schluchten über insgesamt 221 Kilometer erstrecken, sprachen die Forscher mit einer Mutter, deren Haus in der Nähe eines Gullys lag. Zwei Tage später kamen mehrere ihrer Kinder ums Leben, als sie bei Verwandten Zuflucht gesucht hatten und ein Hang einer sich ausbreitenden Schlucht plötzlich zusammenbrach. Mindestens 40 Menschen starben in dieser Nacht.

Insgesamt werteten die Forscher Satellitenbilder von 2922 Schluchten in 26 Städten des Riesenlandes von der fast siebenfachen Größe Deutschlands aus. Durch Abgleich mit historischen Aufzeichnungen stellten sie fest, dass nur 46 dieser Gullys bereits in den 1950er Jahren vorhanden waren. Im Durchschnitt waren sie zuletzt 253 Meter lang und an ihrer breitesten Stelle 31 Meter breit. Rund 99 Prozent der Schluchten haben sich zwischen 2004 und 2023 um mindestens zehn Quadratmeter vergrößert. Dadurch nimmt auch die Zahl der Vertriebenen zu: Traf es im gesamten Untersuchungszeitraum durchschnittlich 5930 Menschen pro Jahr, stieg ihre Zahl zwischen 2020 und 2023 auf 12 200 pro Jahr.

»Es mangelt so sehr an Geld und Ressourcen, dass Maßnahmen entweder unzureichend sind oder zu spät kommen.«

Matthias Vanmaercke Universität Leuven

»Es handelt sich um eine unterschätzte und stark untererforschte Gefahr«, betont Vanmaercke. Die Studie liefert nach seinen Angaben den ersten klaren Hinweis darauf, dass »dies tatsächlich auf die fortschreitende Urbanisierung zurückzuführen ist«. Die Entwicklung sei aber »keineswegs unvermeidbar«. Es gebe nachträgliche Stabilisierungsmaßnahmen, die jedoch oft kostspielig seien. Die Verhinderung der Schluchtenbildung durch angemessene Stadtplanung und angepasste Infrastruktur dürfte erheblich kostengünstiger sein. »Der Trick besteht darin, gut durchdachte Maßnahmen rechtzeitig zu ergreifen. Aber es mangelt so sehr an Geld und Ressourcen, dass Maßnahmen, wenn sie denn ergriffen werden, entweder unzureichend sind oder zu spät kommen«, sagt der Forscher.

Regierungen sollten nachhaltiger Infrastruktur Vorrang einräumen, mahnt auch Gina Ziervogel, die als Geografin an der Universität Kapstadt zu dem Thema forscht. »Wir müssen die Rolle der Umwelt und der Ressourcen in Städten verstehen – insbesondere von Boden und Wasser. Und daher ist es wirklich wichtig, Experten aus diesen Bereichen einzubeziehen«, wird sie in der Zeitschrift »Scientific American« zitiert. Zudem würde die Einbeziehung der betroffenen Gemeinden in die Planung von Maßnahmen »wesentlich dazu beitragen, ihre Erkenntnisse sowohl über die Erfahrungen mit dieser Situation als auch über mögliche Lösungen zu verstehen«.

Auch das ist klar: Mit weiterer Verstädterung und durch den Klimawandel, der mit einer höheren Niederschlagsintensität im tropischen Afrika einhergeht, droht sich das Problem weiter zu verschärfen. Ohne Gegenmaßnahmen, schätzen die Forscher, werden in den nächsten zehn Jahren wahrscheinlich Hunderttausende Menschen in ganz Afrika durch sich ausbreitende städtische Schluchten vertrieben. Darunter mehr als ein Viertel der rund 770 000 Menschen, die in der erwarteten Ausbreitungszone in der DR Kongo leben.

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