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Israels Premier Netanjahu provoziert die ägyptische Regierung
Kairo fürchtet die Massenvertreibung von Palästinensern aus dem Gazastreifen nach Ägypten
Mit massiven Bombardierungen bereitet die israelische Armee ihren Einmarsch in Gaza-Stadt vor. Am Sonntag fielen zwei weitere mehr als 14 Stockwerke hohe Gebäude in Sekunden in sich zusammen, nachdem israelische Kampfjets bunkerbrechende Bomben auf sie abgeworfen hatten. Mit Flugblättern und per SMS werden die Bewohner der Millionenstadt aufgefordert, in eine südlich gelegene Sicherheitszone zu fliehen. Verteidigungsminister Israel Katz hatte am Freitag gewarnt, man werde Gaza-Stadt zerstören, wenn die Hamas nicht den israelischen Bedingungen für ein Ende des Krieges zustimme.
Offiziell hat der geplante Einmarsch in das am dichtesten besiedelte Gebiet des Gazastreifens auch die Befreiung der 20 noch lebenden Geiseln zum Ziel. Doch Finanzminister Bezalel Smotrich und mittlerweile mehrere Abgeordnete der Likud-Partei formulieren öffentlich immer wieder die nächste Phase ihres Planes für den Gazastreifen nach dem Krieg: Die »freiwillige« Ausreise der Bewohner in verschiedene Länder. Zwar haben die Gespräche israelischer und amerikanischer Diplomaten mit Regierungsvertretern aus Libyen und Somaliland bisher keine Resultate gebracht. Denn das Risiko, als Helfer der ethnischen Säuberung des Gazastreifens von einem zukünftigen Volksaufstand hinweggefegt zu werden, ist groß. Doch in Ägypten registriert man genau, dass die Regierungskoalition und die Armee trotz aller Proteste und lautstarker Kritik aus den eigenen Reihen ihren Plan rigoros durchziehen.
Das ägyptisch-israelische Verhältnis gilt seit dem im Jahr 1979 geschlossenen Friedensabkommen als Grundpfeiler des Friedens in der Region. Neben dem geplanten Ausbau der Energiepartnerschaft beider Länder hat auch die Aversion der Regierenden in Kairo gegenüber der Hamas schrille Töne über das israelische Vorgehen verhindert. Die Hamas gilt als Partner der Muslimbruderschaft, die in ganz Nordafrika mittlerweile als Drahtzieher der Terrorjahre nach dem Arabischen Frühling angesehen wird. Kairo engagierte sich bisher zusammen mit dem katarischen Königshaus als Vermittler zwischen der Hamas-Führung in Doha und der israelischen Regierung. Damit konnte man diplomatisch punkten und die Straße beruhigen. Denn wie überall in der Region will die große Mehrheit der ägyptischen Bevölkerung einen umfassenden Boykott Israels.
Doch mit der Zerstörung der Wohnblöcke von Gaza-Stadt und der Bombardierung der Flüchtlingslager am östlichen Stadtrand sowie der Ablehnung durch Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu, einem von Kairo und Doha mitverhandelten Geisel-Deal zuzustimmen, hat bei den Regierenden ein Umdenken eingesetzt. Außenminister Badr Abdellaty bezeichnete am Freitag die von israelischen Politikern propagierte »freiwillige Ausreise aus Gaza« als »Unsinn«: »Wir sind Zeuge einer bewusst herbeigeführten Hungerkrise. Mit dem Ziel, die Menschen aus ihrem Land zu vertreiben. Nichts daran ist freiwillig.« Zusammen mit Philippe Lazzarini, dem Kommissar der Vereinten Nationen für humanitäre Hilfe im Gazastreifen, forderte Abdellaty ein Ende des israelischen Boykotts internationaler Hilfsorganisationen.
Zwar blieb Abdellatys Tonfall diplomatisch gegenüber dem US-Vermittler Steven Witkoff, dessen Vorschlag über einen 60-tägigen Waffenstillstand die Hamas bereits akzeptiert hatte. Man arbeite weiter zusammen an einem Kriegsende, so der Ägypter zerknirscht. Doch hinter den Kulissen bereitet sich Kairo auf eine von Netanjahu erzwungene Eskalation und sogar einen bewaffneten Konflikt mit Israel vor.
»Anlass wäre ein Massensturm der Grenze, sobald mit Gaza-Stadt die letzte bewohnbare Siedlung dem Erdboden gleich gemacht ist«, sagt anonym ein ägyptischer Diplomat dem »nd«. Am Wochenende wurden die Zäune an der Grenze zum Gazastreifen weiter verstärkt, weitere Einheiten der Armee sollen auf der ägyptischen Seite von Rafah stationiert werden. Sollte der in den Medien kolportierte israelische Plan eines Grenzsturms durch die palästinensischen Flüchtlinge umgesetzt werden, stünden die ägyptischen Soldaten vor einem kaum lösbaren Dilemma: Würden sie auf hungernde Menschen schießen?
Israel fordert die ägyptische Regierung bereits seit Oktober 2023 auf, auf der Sinai-Halbinsel Flüchtlingslager für die Bewohner des Gazastreifens einzurichten, angeblich bis zum Ende des Wiederaufbaus von Gaza. Auch die israelische Behauptung, die Palästinenser dürften wieder in die Heimat zurückkehren, nimmt niemand in Ägypten ernst. Immer mehr Armee-Offiziere wollen die jahrzehntelange Kooperation mit der israelischen Armee beenden.
In ägyptischen sozialen Medien taucht nun immer häufiger das Wort Krieg auf, seitdem der landesweit bekannte Journalist Amr Adib schrieb, er sei bereit, gegen Israel zu kämpfen, wenn es denn sein müsse. Karten mit israelischen Gebietsansprüchen auf dem Sinai machen die Runde, angeblich im Gegenzug zu einem Erlass sämtlicher Staatsschulden durch die USA. Den Beweis, wie ernst die Lage ist, trat dann am Wochenende Benjamin Netanjahu an: Er beendete die Gespräche über ein gemeinsames Gasprojekt im Wert von 35 Milliarden US-Dollar und warf der ägyptischen Regierung laut der regierungsnahen israelischen Tageszeitung »Israel Hayom« die Verletzung des Friedensabkommens vor, weil Kairo Truppen nahe der Grenze zum Gazastreifen verlegt habe.
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