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Mit Mama in der Peepshow
Sex, Lügen und Ibsen: Vegard Vinge ist zurück an der Volksbühne und präsentiert in einer achtstündigen Séance »Peer Gynt« als postdramatisches Gedicht
Und sie alle pilgern in Richtung Berlins Rosa-Luxemburg-Platz. Es gibt sie also, auch nach ein paar Jahren Pause, noch: die Jüngerinnen und Jünger von Zeremonienmeister Vegard Vinge. Es ist Samstagnachmittag, die Sonne scheint kräftig, und während sich die halbe Stadt zum Demonstrieren verabredet hat, sind hier einige kunstgierige Voyeure zusammengekommen, um der zweiten Vorstellung von Vinges jüngstem Spektakel beizuwohnen.
Ein gut aussehender Hipster sitzt auf der Treppe zur Volksbühne, ein Bier in der einen Hand, ein gelbes Reclam-Heft in der anderen, die Ray-Ban-Sonnenbrille hochgeschoben, um sich mittels Lektüre auf das vorzubereiten, was ihn da erwarten mag. »Peer Gynt« steht auf dem Einband – in schwarzer Schrift, auf weißem Feld auf gelbem Grund. Er ahnt noch nicht, dass er nach den ersten 30 Seiten auch hätte Schluss machen können. Über den ersten Akt von Henrik Ibsens Drama kommt Vinge nach acht Stunden nicht weit hinaus.
Also macht der norwegische Künstler da weiter, wo er aufgehört hat: bei seinem Landsmann Ibsen. Seine Inszenierungen sind allerdings nicht nur eine Abarbeitung an der norwegischen Nationalkultur, sondern eine existenzialistische Selbstbefragung, eine unaufhörliche Grenzüberschreitung, eine große Party, eine Überforderung, ein Spiel mit dem Ekel. In den 2000er und 2010er Jahren, also unter der Ägide von Frank Castorf, dem Volksbühnen-Intendanten mit dem großen Herzen für störrische Künstler, hat Vinge, gemeinsam mit der Bühnenbildnerin Ida Müller und dem Musiker Trond Reinholdtsen, ihre vielstündigen Spektakel kreiert, durch die der Regisseur zum berühmtesten Eigenurintherapeuten der Welt geworden ist. Diese Art des Theaters hat es geschafft, selten genug, ein Publikum anzuziehen, das sonst nicht die Spielpläne der Berliner Bühnen studiert.
Ein kurzes Comeback feierte Vinge 2017, als er kurzzeitig ein Nationaltheater Reinickendorf, in Kooperation mit dem Haus der Berliner Festspiele, eröffnete, wo er sich gewohnt exzessiv Ibsens »Baumeister Solness« hingab und mitunter seine Darmtätigkeit die Dramaturgie der zwölfstündigen Aufführungen vorgeben ließ. Nach den desaströsen Entwicklungen an der Volksbühne und der endlos scheinenden Suche nach dem richtigen Intendanten für dieses traditionsreiche Haus war Vegard Vinge bereits als ständiger Mitarbeiter unter René Pollesch im Gespräch, nach dessen Tod sogar als Interimsintendant. Aber daraus wurde nichts.
Jetzt bespielt Vinge immerhin die Volksbühne in zunächst sechs achtstündigen Séancen. Und dieses Mal darf es sogar die Große Bühne sein, nachdem er sich früher mit dem Prater, der einstigen und künftigen Nebenspielstätte der Volksbühne, zufriedengeben musste. Weitere Vorstellungen in der zweiten Hälfte der Spielzeit sind bereits geplant.
Um 16 Uhr und keine Minute früher werden die Türen geöffnet. In den Seitenfoyers finden sich die übergroßen Reproduktionen der Malereien von Vegard Vinge, die zu einer begehbaren Installation angeordnet sind. Mit grobem Strich, expressiv und mit Mut zu Farbe, verspielt wie Comics. Panini-Sammelkarten von Fußballgrößen des letzten Jahrtausends sind einige Bilder nachempfunden, die auch schon im Nationaltheater Reinickendorf zu sehen waren. Eine Vielzahl anderer Bilder orientiert sich an berühmten Filmplakaten, übersetzt in Vinges Ästhetik, stark sexualisiert und mit Verbindung zu den ihn umtreibenden Themen: Tod und Kot.
Betritt man den Zuschauersaal, fliegen einem die Eindrücke nur so entgegen. Drei Leinwände lassen Anzeichen einer Handlung erahnen. Laut erklingt Bach. Was da gesprochen wird auf und hinter der Bühne, ist kaum zu verstehen. Nur das eine Wort erreicht zielsicher immer wieder das Publikum: Endsieg.
Das (Live-)Leinwandgeschehen und Handlungen auf der Bühne wechseln einander ab. Die grellen Kulissen sind von Hand gemalt. Jeder der zahlreichen Spieler trägt eine weiße Maske. Zweidimensionale Requisiten aus Pappe werden durch den Raum getragen. Wie im Cartoon, und mit entsprechender Sound-Begleitung, bewegen sich die Spieler auf der Bühne.
Und sobald man sich etwas sortiert und an das gelbe Heft zurückgedacht hat, findet man die Spuren auch. Jon Gynt, vom Alkohol zerfressen, liegt im Sterben. Sein Sohn Peer, der Lügenkönig, muss sich von seiner Mutter züchtigen lassen. Ob der Junge denn auch immer die Wahrheit gesagt habe? Und bald schon fantasiert der Märchenonkel. Der Kampf mit den Dämonen erwartet ihn. Ingrid wird von ihm gefreit und Solveig unsanft betört.
Natürlich kommt es auf der Bühne auch zum Unvermeidlichen, das, wofür das Vinge-Theater bekannt ist: Es wird gepinkelt, heute allerdings nur vor der Kamera. Der Kunstkacke der Pseudoprovokateure setzt Vinge wahrhaftig seine Kacke entgegen. Die Masturbationsszenen wollen an diesem Abend fast nicht enden (bis das väterliche Grabkreuz umkippt). Die Kleidung fällt mehr als nur einmal, nur die Masken bleiben an ihrem Platz, und bald wird Bühnensex ohne falsche Zärtlichkeit simuliert. Hoch über all dem schwebt ein riesiger Phallus.
Sieht so etwa der pubertäre Abgrund des Regietheaters aus? Nein, so einfach ist es nicht. Dass der Pfad der Erkenntnis nicht selten ein Leidensweg ist – das gilt auch und besonders für das Theater! –, das sollte mittlerweile bekannt sein. Vinges »Peer Gynt« ist nicht allein ein knalliges und krawalliges Bühnenspektakel, sondern eine durchaus substanzielle Auseinandersetzung.
Auf einem der Vinge’schen Filmplakate im Foyer wird Francis Ford Coppolas »Der Pate« beworben. Marlon Brando sieht beherrscht zur Seite. Nach seiner übergroßen Hand greift ein kleiner nackter Mann. Er hält seinen Penis in der Hand und pinkelt sich in den eigenen Mund. Zeitgleich entleert er seinen Darm. Neben dem Filmtitel ist zu lesen: »Bau-Meister Brand & Son«. Unter dem Nackten, Vegard Vinges bildliches Alter Ego, steht: »Dr. W. Reich Perpetuum mobile«. Das ist die Rezeptur dieses Theaterabends: Ibsen trifft auf Popkultur trifft auf Freud.
Mit Freuds marxistischem Schüler Wilhelm Reich im Gepäck, mit Sinn für den großen Effekt, in Kenntnis des popkulturellen Kanons zerlegt uns Vinge das norwegische Nationaldrama »Peer Gynt«. Er geht auf die Spur der merkwürdigen libidinösen Verstrickungen von Aase und Peer, von Mutter und Sohn. Er zeigt uns das Motiv des Frauenraubs als das, was es ist: Vergewaltigung, schlimmster Ausdruck patriarchaler Gewalt. Und er präsentiert uns die gütige, die alles verzeihende Solveig als Männerfantasie.
Dass das übergriffige Verhalten von Peer gegenüber Solveig einer Szene voll marschierender Soldaten weicht, ist so wenig Zufall oder dramaturgische Willkür wie der Umstand, dass das Bekenntnis frei nach Friedrich Merz, »die stärkste Armee Europas« werden zu wollen, in Rufe nach dem »totalen Krieg« übergehen. Der Vorwurf, das Vinge-Theater wäre nur irres Farb- und Formenspiel, sollte damit auch entkräftet sein. Die Kriegs- und Antikriegsfilme der 70er Jahre begleiten das Bühnengeschehen.
Zwischen allem schwer Dechiffrierbaren und Erratischen in der Inszenierung lässt Vinge auch minutenlang die Tonspur von Rainer Werner Fassbinders Filmklassiker »Angst essen Seele auf« laufen und mit neuen Bildern zusammengehen. Die unmögliche Beziehung zwischen einer deutschen Putzfrau und einem marokkanischen Gastarbeiter im Nachkriegswestdeutschland dient als vorauseilender Kommentar zu der eigentümlichen und vor Kolonialismus sprühenden Beschreibung eines durch Sklaverei in Marokko reich gewordenen Peer Gynt, drei Akte oder 30 Jahre später. Diese Art der Überlagerung von dramatischer Handlung und Slapstick, Kritik und Affirmation, Trash und Kunst spukt einem noch eine ganze Weile im Kopf herum.
Das ist klug und hässlich, mitreißend und manchmal ekelhaft. Ein Acht-Stunden-Rausch, der allzu schnell vergeht.
Nächste Vorstellungen: 1., 3. und 5. Oktober
www.volksbuehne.berlin
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