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Die Piratenflagge der Generation Z
Weltweit ist die Fahne der Strohhutbande aus dem Manga »One Piece« auf Demonstrationen zu sehen
Auf der großen Gaza-Demonstration in Berlin wehte sie über den Köpfen der Menge: eine schwarze Fahne mit Totenkopf, darauf ein Strohhut. Wer den Anime »One Piece« kennt, erkennt sofort den »Jolly Roger« der Strohhutpiraten. Wer nicht, reibt sich verwundert die Augen: Warum taucht eine Flagge im Comic-Stil auf politischen Demonstrationen auf?
Neu ist das nicht. In Indonesien flatterte der Totenkopf im August an Häusern, Motorrädern und Lkw, als Protest gegen Politiker*innenprivilegien – so massiv, dass die Polizei Jagd auf die Fahnen samt Demonstrant*innen machte. Amnesty International warnte vor einer Einschränkung der Meinungsfreiheit. In Nepal wurde die Flagge der Stohhutpiraten an die goldenen Tore des brennenden Parlaments gehängt, als junge Menschen die Regierung zu Fall brachten. Auf den Philippinen war er bei Demonstrationen gegen Korruption zu sehen. Und inzwischen findet man ihn auch in Europa: bei Protesten in Italien, Spanien, Frankreich – und jetzt in Berlin.
Dass ausgerechnet diese Flagge zum Zeichen des Widerstands wurde, ist kein Zufall. Sie stammt aus der 1997 gestarteten Manga-Serie »One Piece« von Eiichiro Oda, dem erfolgreichsten Comic der Welt mit über 500 Millionen verkauften Exemplaren. Erzählt wird die Geschichte von Monkey D. Ruffy, einem jungen Piraten mit Strohhut. Sein Traum: den sagenumwobenen Schatz »One Piece« finden und König der Piraten werden – nicht aus Machtgier, sondern weil dies die größtmögliche Freiheit verspricht.
Seine Crew, die Strohhutbande, ist eine Gruppe von Außenseiter*innen, die in ihrem Streben nach Verwirklichung ihrer Träume geeint sind: ein Schwertkämpfer, der der Beste der Welt werden will; eine Navigatorin, die die ganze Welt vermessen möchte; ein Koch, der ein Meer mit allen Fischen der Welt finden will, und einige mehr – jedes Crewmitglied hat einen eigenen Traum, um dessen Verwirklichung es kämpft. Auf ihren Fahrten stoßen sie auf korrupte Könige, unterdrückte Völker, versklavte Menschen. Sie stehlen von Reichen, aber vor allem kämpfen sie mit den Unterdrückten gegen deren jeweilige Peiniger. Das Leben an Bord ist dabei mehr als nur eine Aneinanderreihung von Abenteuern – es ist ein Entwurf der befreiten Gesellschaft.
Politisch angelegt ist auch die Welt, in der sie kämpfen: Antagonist ist die »Weltregierung«, dessen Anführer dekadent und grausam über die Menschen herrschen und ihre Macht mit Gewalt und der Zensur der »verlorenen Geschichte« –die Zeit vor Gründung der Weltregierung – aufrechterhält. Die Marine, quasi Polizeikraft der Weltregierung, spielt eine ambivalente Rolle: Es gibt sowohl Helden als auch Antagonisten unter ihnen; dennoch sind die »guten« Charaktere früher oder später damit konfrontiert, dass die Organisation, in deren Namen sie »Gerechtigkeit« walten lassen, selbst für unglaubliche Ungerechtigkeiten und Massaker verantwortlich ist. Kann man in so einer Welt wirklich ein »Good Cop« sein?
Neben den Strohhutpiraten gibt es in »One Piece« auch die »Revolutionsarmee« – stärker organisiert, zentralistisch geführt und mit klaren politischen Zielen führt sie einen Befreiungskrieg gegen die allmächtige Weltregierung, fast wie eine klassische sozialistische Befreiungsbewegung. Die Strohhutbande dagegen ist eher anarchistisch geprägt: Ihr Konflikt mit der Weltregierung ergibt sich nicht aus einem ideologisch-politischen Programm, sondern natürlich, da sie ihrer Freiheit im Weg steht.
Die Flagge versinnbildlicht Narrative von Freiheit, Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und Rebellion.
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Damit ist auch erklärt, warum die Flagge auf realen Demonstrationen so gut funktioniert. Sie ist anschlussfähig – sie steht für keine ausgefeilte Ideologie, sondern versinnbildlicht Narrative von Freiheit, Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und Rebellion. An diese Sehnsüchte können Menschen aus aller Welt bei unterschiedlichen Anlässen anknüpfen.
Politische Bewegungen haben immer Symbole gebraucht, die über das Rationale hinauswirken. Der französische Denker Georges Sorel beschrieb Anfang des 20. Jahrhunderts den politischen Mythos als notwendige Kraft, die kollektives Handeln überhaupt erst ermöglicht – ein Gedanke, den Mussolini, Gramsci und Lenin jeweils unterschiedlich aufgegriffen haben. Es braucht eine gute Geschichte.
In den 2010er Jahren zeigte sich dies bei der digitalen Rechten: Als »Pepe the Frog« von der amerikanischen Alt-Right vereinnahmt wurde, wurde aus einem harmlosen Meme ein rechtsextremes Kampfsymbol. Heute zieht sich eine andere Generation ihre Mythen aus der Popkultur: Was einst Hammer und Sichel waren, ist für viele junge Menschen der Jolly Roger der Strohhutbande – ein Symbol für das Streben nach einer besseren Welt.
So verbindet sich auf den Straßen von Jakarta, Kathmandu und Berlin die digitale Popkultur mit realen Kämpfen. One Piece spricht das Verlangen einer jungen Generation an, der im neoliberalen Alltag der Postmoderne ständig »Selbstverwirklichung« versprochen wird, die sie aber in der Realität bei prekären Löhnen, horrenden Mieten und unterdrückerischen, korrupten Regimen nicht erreichen kann. Die Geschichte ist anziehend, weil sie ein altes Heilsversprechen erzählt, das die kapitalistische Gegenwart des Neoliberalismus nicht einzulösen vermag – die befreite Gesellschaft und Verwirklichung des Individuums.
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