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VEB Kulturhaus
Wie Ehrenamtliche im südbrandenburgischen Plessa ein Relikt der DDR-Kulturpolitik am Laufen halten
Sie waren alle da, sagt Gottfried Heinicke und blättert in einem der schweren Gästebücher des Kulturhauses Plessa. Die lesen sich wie ein »Who is who« der DDR-Unterhaltungsmusik. Herbert Roth etwa, der Interpret des Rennsteiglieds: »Der war Stammgast bei uns.« Schlagersänger wie Achim Menzel: »Ich kann gar nicht sagen, wie oft der hier war.« Gleiches gilt für die Rockband City, zu der ihm eine Anekdote einfällt. Vor einem in Plessa geplanten Konzert habe einer der Musiker einen Stiftzahn verloren. Während Heinickes Zahnarzt diesen im Nachbardorf wieder einsetzte, habe der Rest der Band im großen Saal geprobt. »Nur für mich«, sagt er und lächelt andächtig. Seine Frau Viola nickt: »Hier war wirklich viel Kultur los.«
»Hier« heißt: in Plessa, einem 2900 Einwohner zählenden Dorf, das im äußersten Süden von Brandenburg unweit der sächsischen Landesgrenze an der Bundesstraße 169 liegt. Durchreisenden fällt es vor allem wegen eines Bauwerks auf, das in seinen Dimensionen nicht ganz in den Ort zu passen scheint: das Kulturhaus. Wuchtig erhebt sich das dreigeschossige Gebäude hinter einem begrünten Vorplatz. Über den Eingangstüren ragt ein Vorbau auf, der an einen griechischen Tempel denken lässt. Auch die Fassade daneben strebt dank der schmalen, vertikalen Fensterbänder in die Höhe; die benachbarte Dorfkirche wirkt im Vergleich fast geduckt. An einer Stelle ist der Rhythmus der Fensteröffnungen unterbrochen; stattdessen zieren den grauen Putz künstlerische Reliefs mit Motiven aus Landwirtschaft und Industrie.
Der Bau in Plessa ist einer von rund 2000 Kulturpalästen, -häusern und Arbeiterklubs, die in der DDR gebaut oder in bestehenden Villen und Saalbauten eingerichtet wurden. Sie sind Zeugnisse der Kulturpolitik des sozialistischen Landes und wurden an Industriestandorten auch abseits der Großstädte errichtet, damit das Leben der Werktätigen nicht nur aus Arbeit bestand. In Plessa waren diese überwiegend in einer Braunkohlengrube, einem Kraftwerk und einer Brikettfabrik beschäftigt. Alle drei waren bereits seit den 1920er Jahren in Betrieb und sorgten für starken Zuzug in den Ort, sagt Gottfried Heinicke: »Zu besten Zeiten lebten hier 4000 Menschen.«
In der DDR-Zeit wurden Grube, Kraftwerk und Brikettfabrik in das spätere Braunkohlenkombinat Lauchhammer eingegliedert. In Regie des Kohlebetriebes wurde auch das Kulturhaus gebaut. Mit derartigen Einrichtungen habe man in der DDR das »kulturelle Interesse der Werktätigen wecken und gleichzeitig Raum für kollektive Freizeitgestaltung schaffen« wollen, schreibt die Deutsche Stiftung Denkmalschutz und lobt die architektonischen Qualitäten des im Sommer 1960 nach fünfjähriger Bauzeit eingeweihten Hauses: »So schön kann sozialistischer Einheitsbau wirken!«
Für die Menschen aus Plessa und Umgebung war das Innenleben mindestens so wichtig wie die eindrucksvolle Fassade. In dem Kulturhaus, dessen großer Saal immerhin 450 Sitzplätze bietet, gab es am laufenden Band Konzerte und Theateraufführungen. »Wir hatten 500 Veranstaltungen im Jahr«, sagt Viola Heinicke, die seit 1988 als Verwaltungsmitarbeiterin im Kulturhaus tätig war. Viele Besucher kamen aus der näheren und weiteren Umgebung. Jeden Samstag war Disco – allerdings nur bis 21 Uhr, sagt sie: »Dann fuhren die letzten Züge.« Im Kulturhaus trafen sich außerdem die Briefmarkensammler und andere Zirkel; es gab Kurse und einen Jugendclub. Im kleinen Saal habe das erste TV-Gerät des Dorfes gestanden: »Die Älteren sprechen bis heute vom Fernsehzimmer.« Auch Betriebsfeiern, Feste der örtlichen Schule und Familienfeiern fanden statt, regelmäßig zudem Konferenzen der Kreisverwaltung oder der DDR-Parteien: »Da wurde ein Notstromaggegat aufgestellt, damit ja nichts schief ging«, sagt Gottfried Heinicke.
Nach einem Vierteljahrhundert munterem Kulturleben allerdings war Schluss. Erst ging im Herbst 1989 die DDR unter, dann ihre Industriebetriebe. Die Brikettfabrik Plessa wurde 1990 geschlossen, das Kraftwerk zwei Jahre später. Auch ein Gartenbaubetrieb, der dessen Abwärme nutzte, musste schließen. »Hier war Kahlschlag«, sagt Gottfried Heinicke. »Die Leute wurden arbeitslos, hatten kein Geld, gingen in den Westen«, ergänzt seine Frau: »Alles war ungewiss.« Eine Verwaltungsreform im neu gegründeten Land Brandenburg ließ zudem den Landkreis Bad Liebenwerda verschwinden, der das Haus in Plessa als Kreiskulturhaus genutzt und mitfinanziert hatte. Diesem kamen somit seine Träger und Geldgeber abhanden, ihr selbst der Arbeitsplatz. Die Kommune sprang als Eigentümer der Immobilie ein. Verschiedene Pächter versuchten, das Haus am Laufen zu halten, aber »erfolgreich war keiner von ihnen.«
»Wir lassen uns das nicht nehmen, sonst geht hier alles den Bach runter.«
Gottfried Heinicke Ex-Bürgermeister
Dass das Kulturhaus die Wirren der Nachwendejahre überlebt, war keinesfalls ausgemacht. Konzertveranstalter buchten den Saal in der ländlichen Region immer seltener. Zeitweise war eine Nutzung als Möbelhaus im Gespräch, dann sogar der Abriss. Ein Discounter habe Interesse an der Fläche direkt an der Bundesstraße und neben einer größeren Kreuzung gezeigt, sagt Gottfried Heinicke, der von 2003 bis 2024 als ehrenamtlicher Bürgermeister tätig war. Er erinnert sich an Abstimmungen im Gemeinderat, bei denen es Spitz auf Knopf stand: »Wenn da nur ein Befürworter des Kulturhauses gefehlt hätte, wäre es jetzt weg.«
Es gab ja Argumente, die gegen das Kulturhaus sprachen. »Das ist ein Fass ohne Boden«, räumt Heinicke ein. Der Sanierungsbedarf war immens, die laufenden Kosten für Heizung, Strom und Versicherungen sind kaum zu stemmen für eine kleine Kommune, die vom Land nie so viele Mittel erhält wie gewünscht und kaum nennenswerte eigene Einnahmen hat: »Wir haben jahrelang nur Nothaushalte zusammenbekommen«, sagt der Ex-Bürgermeister. Gleichzeitig gab es andere Wünsche und Bedürfnisse. In Plessa waren nach 1990 so viele Straßen unbefestigt wie in keinem anderen Ort ringsum; auch in Kita und Schule musste investiert werden.
Und doch gab es eine – wenn auch knappe – Mehrheit im Gemeinderat, die sich von dem Haus nicht trennen wollte. Dabei ging es weniger um ein architektonisches Zeugnis der DDR-Zeit als vielmehr um einen Ort, der für das gesellschaftliche Leben als unentbehrlich angesehen wurde. »Wir lassen uns das nicht nehmen«, beschreibt Gottfried Heinicke die Stimmungslage, »sonst geht hier alles den Bach runter.« Ein Beispiel: der Plessaer Karnevals-Club, dessen Veranstaltungen seit Jahrzehnten in der näheren und weiteren Umgebung einen legendären Ruf genießen. »Der wurde so groß durch das Haus«, sagt Viola Heinicke: durch den geräumigen Saal, die riesige Bühne, die vielen Räumlichkeiten von Foyer bis Gaststätte: »Ohne das Kulturhaus hätte es auch den Karneval nicht mehr gegeben.«
Also beschlossen Plessaer Bürger, sich selbst um das Kulturhaus zu kümmern – und dieses also gewissermaßen unter den Bedingungen der Marktwirtschaft zu einem volkseigenen Kulturbetrieb zu machen. Ein Kulturverein wurde gegründet. Seine Mitglieder renovierten über Wochen hinweg Räume wie den kleinen Saal: »Da haben wir fünf alte Farbschichten von der Wand gekratzt«, erinnert sich Gottfried Heinicke. Sie setzten mehrfach die Heizung instand und bauten erst einen Kohlekessel ein, der später durch einen Anschluss an die Fernwärme ersetzt und schließlich von einer Ölheizung abgelöst wurde, die sie in einem Betrieb der Region demontierten. Auch in anderen Bereichen erwies sich das in der DDR erworbene Organisations- und Improvisationstalent der Mitglieder als hilfreich. Ausgediente Möbel staubte man bei der örtlichen Sparkasse ab, Akkus für die Notbeleuchtung in einem früheren Umspannwerk: »Ein Wahnsinn, was wir alles gemacht haben!«, seufzt Viola Heinicke.
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Mindestens so anstrengend wie die Renovierungen und Umbauten ist freilich das Ringen um Fördermittel und Spenden. Anfangs holte man sich Rat bei einem, der bewiesen hatte, dass er es kann. Vertreter von Gemeinde, Karnevalsclub und Kulturverein seien nach Dresden zum Startrompeter Ludwig Güttler gefahren und hätten gefragt, »wie er es bei der Dresdner Frauenkirche angestellt hat«, sagt Gottfried Heinicke. Güttler veranstaltete in Plessa eine öffentliche Generalprobe für eine seiner bundesweiten Weihnachtstourneen; die Einnahmen kamen dem Kulturhaus zugute. Auch andere Institutionen halfen; die Deutsche Stiftung Denkmalschutz beispielsweise beteiligte sich zwischen 2012 und 2016 finanziell an der Sanierung von Türen und Fenstern.
Es galt allerdings auch viele Rückschläge zu verkraften. 2009 wurde wegen Mängeln beim Brandschutz die Nutzung des großen Saals für Veranstaltungen untersagt. Bis sie behoben waren, musste der Karneval zwei Jahre lang in einem auf dem Vorplatz errichteten Zelt stattfinden. Inzwischen ist der Saal wieder geöffnet; die strengen Anforderungen etwa für den Brandschutz aber bleiben ein Problem. Um entsprechende Vorgaben des Landkreises zu erfüllen, müssten enorme Beträge investiert werden. »Wir haben den Landrat gefragt, ob er uns kaputtmachen will«, sagt Viola Heinicke und räumt ein: »So etwas entmutigt uns ehrenamtlich Engagierte sehr.«
Den »VEB Kulturhaus« am Laufen zu halten, bleibt also ein mühsames Geschäft. »Heute muss sich so etwas ja selbst tragen«, sagt Viola Heinicke. Zwar seien 35 Jahre nach dem politischen und gesellschaftlichen Umbruch die Zeiten des Kahlschlags in Plessa lange vorbei, ergänzt ihr Mann. In Betrieben der Region gebe es wieder viele Arbeitsplätze; zudem pendeln viele Plessaer nach Dresden und verdienen dort gutes Geld. Ausgegeben aber wird es nicht unbedingt für die Kultur im Ort. Zudem lässt das Angebot im Kulturhaus zu wünschen übrig. Fehlende Aufzüge für Besucher und Technik seien ein gravierendes Problem: »Viele Veranstalter winken ab, wenn sie das hören«, sagt Viola Heinicke. Wenn es allerdings Veranstaltungen gibt, so wie zuletzt mit dem Dresdner Komiker Olaf Schubert, dann ist die Hütte voll: »Da gab es gar nicht so viele Sitzplätze wie Besucher.«
Solche Momente entschädigen für die vielen ehrenamtlichen Arbeitsstunden. Freudig stimmt Viola und Gottfried Heinicke auch der Umstand, dass zuletzt eine Gruppe junger Plessaer begann, Veranstaltungen im Kulturhaus zu organisieren, etwa eine Kinderdisco, deren Dekoration bereits den kleinen Saal schmückt. »Wir können uns langsam zur Ruhe setzen«, sagt der Ex-Bürgermeister, der nächstes Jahr 70 wird. Im Kulturhaus, das in diesem Sommer 65-jähriges Jubiläum gefeiert hat und aus diesem Anlass 500 neue Stühle spendiert bekam, wird der Betrieb weitergehen.
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