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Koalition gibt Startschuss zum Sozialkahlschlag
Spitzen von Union und SPD einigen sich bei »neuer Grundsicherung«, Aktivrente und E-Auto-Förderung
Im Grundsatz steht alles, worauf sich die Partei- und Fraktionsvorsitzenden von CDU, CSU und SPD in der Nacht zum Donnerstag geeinigt haben, im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien. Nun hat sich der Koalitionsausschuss bei strittigen Themen geeinigt, insbesondere bei der Ausgestaltung der neuen Grundsicherung, die das Bürgergeld ersetzen soll.
Bundeskanzler Friedrich Merz kündigte an, man werde schnell Gesetze vorlegen. »Es wird eine wirklich gute neue Grundsicherung geben, und das Thema Bürgergeld wird damit der Vergangenheit angehören«, sagte der CDU-Chef. Man werde »Leistungsmissbrauch« besser bekämpfen. Das Gesetzgebungsverfahren könne nun sofort eröffnet werden.
SPD-Chefin Bärbel Bas kündigte mit Blick auf die Regeln zur Grundsicherung an: »Wer nicht mitmacht, wird es schwer haben.« Man verschärfe »die Sanktionen bis an die Grenze dessen, was verfassungsrechtlich zulässig ist«, sagte die Sozialministerin. Man wolle aber »nicht die Falschen treffen«, beteuerte sie. Die Verschärfungen sollen für Personen gelten, die nicht mit dem Jobcenter »kooperieren«. Menschen mit gesundheitlichen oder psychischen Beeinträchtigungen sollen nicht betroffen sein.
»Wir verschärfen die Sanktionen bis an die Grenze dessen, was verfassungsrechtlich zulässig ist.«
Bärbel Bas Bundessozialministerin
Auch die Details der geplanten »Aktivrente« sind nun geklärt. Ruheständler sollen demnach künftig 2000 Euro monatlich steuerfrei dazuverdienen können. Der entsprechende Gesetzentwurf soll nach Angaben von Merz schon am 15. Oktober im Kabinett beschlossen werden. Der Bundestag soll über die Neuregelung noch in diesem Jahr abstimmen, damit sie zum 1. Januar 2026 in Kraft treten kann.
Geeinigt haben sich die Partei- und Fraktionsspitzen auch auf ein neues Programm zur Förderung der Autoindustrie in Form von Zuschüssen für Haushalte mit kleinen und mittleren Einkommen beim Kauf eines E-Autos. Dafür sollen drei Milliarden Euro aus dem Klima- und Transformationsfonds (KTF) und dem EU-Klimasozialfonds zur Verfügung gestellt werden.
Der Koalitionsausschuss beschloss außerdem die Bereitstellung von zusätzlichen drei Milliarden Euro für den Aus- und Neubau von Autobahnen und Bundesstraßen. Dafür sollen Gelder aus dem Sondervermögen für Infrastruktur und Klimaschutz umgeschichtet werden, die ursprünglich für Projekte im Bereich Mikroelektronik vorgesehen waren. Verkehrsminister Patrick Schnieder (CDU) hatte im September 15 Milliarden zusätzlich für Straßen gefordert. Sein Ministerium warnte damals vor dem Stopp bereits baureifer Projekte. Eine Prüfung ergab nun aber eine deutlich geringere Finanzlücke.
Merz sprach von einer »wirklich ausgesprochen guten Atmosphäre« während der Gespräche. Es sei insgesamt ein guter Koalitionsausschuss gewesen. CSU-Chef Markus Söder sagte, man habe etliches »weggearbeitet« und »dicke Bretter gebohrt«. Der Koalitionsausschuss hatte rund acht Stunden lang bis in die Nacht getagt.
Kürzen am Existenzminimum
Bei Menschen in der Grundsicherung soll künftig folgendermaßen vorgegangen werden: Wer einen ersten Termin im Jobcenter versäumt, soll sofort zu einem zweiten eingeladen werden. Versäumt man auch diesen Termin, wird die Leistung um 30 Prozent gekürzt. Diese Obergrenze hatte das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil von 2019 festgelegt. Nur kurzzeitig darf noch mehr Geld gestrichen werden. Eine 100-Prozent-Sanktion beim Regelsatz soll greifen, wenn ein dritter Termin versäumt wurde. Wer auch im Folgemonat nicht zum Termin erscheint, dem sollen auch die Wohnkosten gestrichen werden. Aber die Kosten der Unterkunft sollen dann direkt an den Vermieter fließen. Schwerwiegende Gründe wie Krankheit sollen aber mildernd berücksichtigt werden.
Weiter sollen künftig Ersparnisse weitgehend verbraucht werden müssen. Die sogenannten Karenzzeiten sollen wegfallen, das Schonvermögen, das man bisher behalten darf, soll an die Lebensleistung geknüpft werden. Orientieren sollen sich die Behörden am Alter und den bisherigen Beitragszeiten. Auch bei »unverhältnismäßig hohen Kosten der Unterkunft« soll die Karenzzeit entfallen.
Mit der Grundsicherung wird auch der mit dem Bürgergeld abgeschaffte sogenannte Vermittlungsvorrang reaktiviert. Das bedeutet, dass Leistungsbeziehende wieder gezwungen sein werden, jedes Jobangebot anzunehmen. Durch den Wegfall des Vermittlungsvorrangs sollte die dauerhafte Rückkehr auf eine auskömmlich bezahlte Stelle ermöglicht werden, also eine »nachhaltige« Vermittlung. Die Betroffenen sollten nicht mehr in prekäre Helferjobs vermittelt werden, denn dadurch waren und sind viele in kurzer Zeit erneut auf Transferleistungen angewiesen. Nur wenn eine Qualifizierung erfolgversprechender erscheint, hat dies künftig Vorrang – besonders bei Menschen unter 30.
Auch die zweite Nullrunde in Folge beim Bürgergeld beziehungsweise dann der Grundsicherung im kommenden Jahr wurde im Ausschuss beschlossen. Die Regelsätze werden damit drei Jahre in Folge nicht angehoben. Alleinstehende erhalten für das Bestreiten der Lebenshaltungskosten 563 Euro monatlich, Partner in einer »Bedarfsgemeinschaft« und Kinder deutlich weniger.
Während die Chefs der Unternehmerverbände die Einschnitte begrüßten, kam von Linkspartei und Grünen scharfe Kritik. Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann nennt die geplanten Verschärfungen »menschlich hart und kalt«. »CDU und SPD wollen den Menschen alles streichen, was sie zum Leben brauchen«, sagte sie der dpa. Die Pläne sind aus ihrer Sicht »verfassungsrechtlich nicht haltbar«. Ähnlich äußerte sich Linksfraktionschefin Heidi Reichinnek. Die Abschaffung des Bürgergelds sei »nur der erste Schritt eines massiven Angriffs auf den Sozialstaat«, prognostizierte die Politikerin. Dagegen sprach AfD-Chefin Alice Weidel von »kosmetischen« Veränderungen und forderte erneut, dass nur noch deutsche Staatsbürger die Grundsicherung erhalten sollten.
Einhellige Ablehnung kam auch aus dem Deutschen Gewerkschaftsbund und den Sozialverbänden. DGB-Chefin Yasmin Fahimi, sprach von geplanten »drakonischen Strafen, um vielleicht ein paar Hundert Menschen aus dem Bürgergeld zu drängen«. Vor allem die vorgesehene Komplettstreichung der Grundsicherung beim dritten Terminversäumnis sei nicht verfassungsgemäß, sagte Fahimi dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
Zu wenig für die Schiene
Kritik äußerten Vertreter von Linkspartei und Grünen auch an den verkehrspolitischen Beschlüssen der schwarz-roten Koalition. Der Grünen-Verkehrspolitiker Matthias Gastel warf Union und SPD vor, einseitig Geld für Autobahnen zur Verfügung zu stellen, nicht jedoch für den Aus- und Neubau des Schienennetzes. »Mehr Asphalt ist keine Zukunftsstrategie«, erklärte auch der Linke-Verkehrspolitiker Jorrit Bosch.
Für »mehr Schienen zugunsten pünktlicher Züge« fehlen nach Angaben von Gastel bis 2039 fast 60 Milliarden Euro. »Die Autobahnen in Deutschland sind weitgehend fertig, während die Züge auf Strecken fahren, die noch vor der Gründung Deutschlands gebaut worden sind«, so der Grünen-Politiker. Als Beispiel nannte er die völlig überlastete Bahnstrecke von Hannover nach Hamburg, wo dringend ein Neubau erforderlich sei.
»Die Autobahnen in Deutschland sind weitgehend fertig, während die Züge auf Strecken fahren, die noch vor der Gründung Deutschlands gebaut worden sind.«
Matthias Gastel Bundestagsabgeordneter (Grüne)
Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Paula Piechotta wies darauf hin, dass Deutschlands Straßennetz schon heute größer als die Kapazitäten sei, es dauerhaft in Schuss zu halten. »Wer jetzt noch neue Straßen dazu baut und dafür Baukapazitäten bindet, die es eigentlich für die Brückensanierung braucht, der produziert nur die Brückensperrungen und Schlaglöcher von morgen«, erklärte sie. mit Agenturen
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