Amrum in der Nebensaison: Nordsee, Kniepsand und Ruhe pur

Nordsee-Insel Amrum entspannt entdecken: Norddorf, Watt & Leuchtturm, Kniepsand, Seehunde und Weite – Nebensaison für Strand, Radtouren und Natur

  • Anja Reinbothe-Occhipinti
  • Lesedauer: 7 Min.
Rast mit Aussicht: Touristen auf Amrum
Rast mit Aussicht: Touristen auf Amrum

Ein Seestern liegt gekrümmt auf dem Trockenen. Die Ebbe hat ihn freigegeben. Kehrt das Wasser zurück, öffnet er sich zu einem rosaroten Schmuckstück. Wie verrückt pustet der Wind über den fast menschenleeren breiten Strand von Norddorf. Winzige Sandkörner tanzen über den Boden, als wären sie Teil einer geheimen Nebelformation. Es ist ungemütlich kalt, doch die Einsamkeit des schneeweißen Strandes birgt Romantik.

In der Nebensaison sind die Strandkörbe verschwunden, die Stimmen des Sommers damit auch. Wer jetzt auf Amrum im Kreis Nordfriesland urlaubt, genießt Stille. Allein Wind, Wellen und Möwen sorgen für Geräusche – und der Klang von Öömrang. In diesem nordfriesischen Dialekt heißt so mancher der rund 2300 eher wortkargen Amrumer neue Gäste willkommen: »Hartelk welkimen üüb Oomram!«

Stille statt Strandkörbe

Die Fähre ab Dagebüll Mole bringt uns in zwei Stunden vom Festland durch das blaugraue Wasser eines Priels, eines natürlichen Wasserlaufs im Watt, auf die Nordsee-Insel. Sie ist vom Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer umgeben, so wie Sylt. Auf der berühmten Nachbarinsel waren viele schon mal, auf dem bodenständigen Amrum die wenigsten. An Bord der Fähre sind Familien, die in einer der Reha-Kliniken auf der Insel verweilen, sowie Reisende, die Ruhe suchen. Die Gäste verstreuen sich fast unbemerkt auf dem 14 Kilometer langen und vier Kilometer breiten Eiland. In Norddorf verbringen wir die nächsten Tage.

Neben Norddorf gibt es noch die Inseldörfer Wittdün, wo die Fähre anlegt, Nebel, Stennodde und Süddorf. Amrum ist klein. Ein Auto braucht der Urlauber nicht, mit dem Fahrrad kommt er bestens auf der einen Hauptstraße und den Pfaden und Radwegen voran. Im gemächlichen Tempo. Gedrängel herrscht weder am Strand noch auf der Straße. Schon gar nicht in der Nebensaison. Das Kino in Norddorf hat ab Anfang November Winterpause, das Wellenbad in Wittdün folgt kurz darauf.

Die Nordsee mit ihren Urkräften und dem Wechsel zwischen Ebbe und Flut ist das ganze Jahr über ein Magnet. Der Wind pustet tags darauf wieder ordentlich. Wie Mehlstaub setzt sich der Sand auf Mantel, Mütze und Gesicht und wird noch Monate später in Jackentaschen gefunden, jedes Körnchen ein Souvenir. Die Wellen tosen laut. Stundenlang spazieren wir durch den Sprühregen, dick eingemummelt, ohne einer anderen Person zu begegnen. An diesem Vormittag wechselt die Ebbe allmählich in die Flut. Der Strand ist im Moment aber noch bis zu anderthalb Kilometer breit. Er gilt als eine der breitesten Sandzonen Europas.

Die Gummistiefel versinken im Schlick. Pfützen glitzern wie kleine Lagunen, die Nordsee hat Muschelbänke freigegeben: leere Krebsgehäuse und Herzmuscheln hier, lange Amerikanische Scheidenmuscheln dort. Dazwischen lugen vereinzelt Spitzen von Wellhornschnecken aus dem Sand.

Kniepsand und Nordseeluft

Die frische, gesunde Luft mit dem hohen Salzgehalt lässt uns tief durchatmen und befreit die Atemwege. Die Gummistiefel werden jetzt abgestreift. Vorsichtig tippen die Zehen ins Nordseewasser. Brr, kalt, aber auch erfrischend! Nach kurzer Eingewöhnung klappt es mit dem Wassertreten. Es härtet ab und fördert die Durchblutung, der feine Sand peelt die Haut. Er ist sogar weicher als der auf Sylt, erklärt Melina Goller später im Naturzentrum in Norddorf, direkt am Strandzugang. Der sogenannte Kniepsand gehöre zu einer langsam wandernden, zehn Quadratkilometer großen Sandbank: »Sie liegt westlich von Amrum und schützt die Insel vor Sturmfluten.«

Die Gummistiefel versinken im Schlick.

Die junge Frau macht ein Freiwilliges Ökologisches Jahr im Verein Öömrang Ferian. Öömrang gehe auf Oomram zurück, die friesische Bezeichnung für Amrum, sagt sie. Seit über 30 Jahren betreut der Verein die Naturschutzgebiete der Insel. Wie fühlt sich denn nun Amrumer im Gegensatz zu Sylter Sand an? Die Hände tauchen in zwei Fächer und tasten. Grobkörniger sind die Sylter Sandkiesel, viel weicher und feiner dagegen der Sand von Amrum. Der Besucher lernt außerdem mehr über das Nordfriesische Wattenmeer, seine Priele und die Gezeiten. Zwischen einer Flut und der nächsten liegen 12 Stunden und 25 Minuten. Auch die Beschaffenheit des Amrumer Dünengürtels in der Inselmitte wird erklärt.

Nur auf ausgewiesenen Bohlenwegen, die zu höher gelegenen Aussichtsdünen führen, ist das Wandern im Naturschutzgebiet erlaubt. Wer aufmerksam ist, trifft auf Brandgänse und Eiderenten, den Wappenvogel von Amrum. Manch einer hört die Rufe einer Kreuzkröte. Oder waren es andere Wesen, wie Norbert Outzen nachmittags behauptet? Er arbeitet in der Kurklinik in Norddorf. Der Ort ist klein und man kommt schnell ins Gespräch.

Sagen der Dünen: die Onerbäänkin

»Es gibt die Onerbäänkin, kleine Kobolde, die in den Dünen leben«, sagt Outzen und schmunzelt. »Wer leise ist, hört sie miteinander reden.« Der Überlieferung nach sollen sie in Grabhügeln leben, beispielsweise südlich von Norddorf. Der »Föögashuug«-Hügel hier ist mit der Sage von einem reichen Onerbäänke (Unterirdischer) verknüpft. Vielleicht treiben die Kobolde auch im »Düüwdääl« (Taubental) ihr Unwesen? Beim Dünen-Spaziergang Richtung Himmelsleiter-Ausblick taucht dort ein Kreis aus Steinen auf. Das Bodendenkmal gehört zu einer Gruppe dreier bronzezeitlicher Grabhügel, die in den 1930er und 40er Jahren freigeweht wurden.

Nachdem die Germanen abgezogen waren, kamen vor etwa 1300 Jahren die Friesen nach Amrum. Es muss das Gefühl von Freiheit und Weite gewesen sein, das sie vorfanden. Das nehmen auch wir tags darauf intensiv auf der Radtour wahr. Der Blick schweift über Wattenmeer, Felder, Pferdekoppeln, blauen Himmel und Wäldchen. Amrum ist die waldreichste Nordseeinsel. Nach knapp vier Kilometern duckt sich hinter dem nächsten Hügel das Örtchen Nebel mit seinen historisch reetgedeckten Friesenhäusern. Fürs Häusergucken ist das urige Dorf in der Inselmitte bekannt, fürs Gräbergucken auch. An der Kirche befindet sich ein alter Friedhof. Die Grabsteine erzählen (über QR-Code auf dem Handy lesbar) Geschichten der verstorbenen Einwohner.

Doch heute lockt uns ein anderes Ziel kurz vor Wittdün: der Amrumer Leuchtturm, der sich weiß-rot gestreift vor unserem Auge erhebt, erbaut 1875 und 41,80 Meter hoch. Der überwältigende Rundumblick über die weite Dünenlandschaft, die Nordsee und das Wattenmeer sind den Aufstieg allemal wert.

Tipps
  • Anreise: Bahn über Hamburg nach Niebüll, weiter nach Dage­büll Mole, Fähre nach Amrum (ca. zwei Std. ab Hamburg)
  • Beste Reisezeit: Herbst bis Frühjahr, wenn Wind und Stille den Ton angeben
  • Übernachten: Hotel »Seeblick« in Norddorf, DZ ab 125 Euro/Person inkl. Frühstück. www.seeblicker.de
  • Unterwegs: Fahrradverleih Windstärke 13, Wochenpreis ab 50 Euro
    www.windstaerke13.com
  • Tipp: Robbentour mit der »MS Eilun« (Apr.–Nov.), Erw. 25 Euro, Kinder 13 Euro. www.eilun.de
  • Naturzentrum: Ausstellung über Wattenmeer und Dünen.
    www.oemrang-ferian.de

Die Tage fließen dahin, unterteilt in Ebbe und Flut, in Besuch im Traditionscafé Schult in Norddorf und Strandspaziergänge. Möwenflüge werden beobachtet, Schaumkronen bewundert. Kopf frei bekommen im Wind, der abends über die Dächer pfeift. Umso behaglicher ist es, im warmen Zimmer mit einem Tee hinaus in die Dämmerung zu blicken, wo sich die Amrumer Odde nur noch erahnen lässt. Hinter Norddorf windet sich diese zwei Kilometer lange Nordspitze vom Wattenmeer zur Seeseite. Seit 1936 ist sie Naturschutzgebiet. Zu erreichen ist die Odde, was Spitze heißt, nur zu Fuß oder mit dem Fahrrad.

Wildes Geschnatter und Gezwitscher weht tags darauf von den Marschwiesen herüber, als wir von Norddorf in die Pedalen treten. Pfeifenten watscheln übers grüne Gras, zwischendrin stolzieren Fasane. Hinter einem Bohlenweg beginnt am Fahrradparkplatz das Fußmarsch-Abenteuer auf der Wattseite. Außer uns ist nur eine kleine Gruppe mit Wanderführer unterwegs. Der Himmel sieht durchwachsen aus. Gut, dass wir Regensachen und Gummistiefel anhaben. Gegenüber zeigt sich Föhr, das an der schmalsten Stelle knapp einen Kilometer entfernt ist. Bei Ebbe kann man in rund zweieinhalb Stunden mit fachkundigem Führer durchs Watt hinüberlaufen.

Mit Gummistiefeln durch den Sand zu stiefeln, strengt an. Dann taucht schließlich Amrums Nordspitze auf, der kiesbedeckte Nehrungshaken, der vielen Vögeln als Brutstätte dient. Von der Aussichtsplattform blicken wir links nach Sylt und suchen die Kormoraninsel zwischen Sylt und Föhr. Auf der vorgelagerten Sandbank sollen Kegelrobben oder Seehunde zu beobachten sein. An diesem Tag nicht. Besser klappt das auf der Bootstour mit der »MS Eilun« an einem Mittwochnachmittag. Kapitän Bandix Tadsen steuert sein kleines Ausflugsschiff, mit dem er seit 1997 fährt, vom Fährhafen in Wittdün hinaus ins Wattenmeer. Im Vergleich zu Kegelrobben seien Seehunde deutlich kleiner, erklärt er über Mikrofon: »Seehunde sind 1,50 bis 1,80 Meter lang und 80 bis 100 Kilogramm schwer.«

Seehunde auf der Sandbank

Steuerbord fließt der hellgraue Himmel ins graublaue Meer. Plötzlich schaltet Kapitän Tadsen die Maschine ab: »Psst, leise! Seehunde sind geräuschempfindlich.« Groß und Klein gehorchen – und erblicken kurz darauf tatsächlich etwa 70 Tiere, die träge auf einer Sandbank liegen oder ins Wasser robben. Ein Schauspiel, das nachhallt.

Am letzten Abend nehmen wir Abschied vom Norddorfer Strand. Wie in schwarzen Seidenstoff gehüllt liegt er da. Der Wind fegt und faucht um uns herum. Aus Augenschlitzen betrachten wir die Nacht und fühlen es durch die Adern kribbeln: das Öömrang-Gefühl. Am besten festhalten, konservieren, mitnehmen – oder wiederkommen in der Nebensaison, wenn sich die Stille über Amrum legt.

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