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»Ausländerkriminalität«: Verzerrte Darstellung in Medien

Datenauswertung: Nichtdeutsche Tatverdächtige sind in Fernseh- und Zeitungsberichten mindestens dreifach überrepräsentiert

Kerzen als Zeichen der Trauer nach dem Anschlag von Solingen im August 2024, bei dem ein Syrer drei Menschen erstach und acht weitere verletzte. Ein rassistischer Brandanschlag in der Stadt mit vier Todesopfern fünf Monate zuvor fand demgegenüber medial wenig Beachtung.
Kerzen als Zeichen der Trauer nach dem Anschlag von Solingen im August 2024, bei dem ein Syrer drei Menschen erstach und acht weitere verletzte. Ein rassistischer Brandanschlag in der Stadt mit vier Todesopfern fünf Monate zuvor fand demgegenüber medial wenig Beachtung.

»Das Internet tobt«. Damit begründeten viele Journalisten ihre Entscheidung dafür, intensiv und mit Vorrang über Straftaten zu berichten, die von Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit begangen wurden. Dabei, so Thomas Hestermann, Journalismusprofessor an der Hamburger Macromedia-Hochschule, seien Debatten auf Social-Media-Plattformen überhaupt nicht repräsentativ. Vielmehr nutzten gerade rechte Gruppen sie intensiv, um gerade das Thema »importierte Kriminalität« zu verstärken und Empörungswellen zu erzeugen, sagte Hestermann am Freitag bei der Vorstellung einer Studie seines Teams zum Fokus der Medienberichterstattung über Gewaltdelikte.

Weil sie sich von solchen Dynamiken unter Druck setzen lassen, berichten eben auch die acht wichtigsten Fernsehkanäle (ARD, ZDF, RTL, Sat.1, ProSieben, Kabel Eins, Vox und RTL2) und die reichweitenstärksten Tageszeitungen überproportional oft über Delikte, bei denen die Tatverdächtigen Migranten oder Geflüchtete sind. Und zwar in einem erschreckenden Ausmaß: »Noch nie war die Überrepräsentation von ausländischen Tatverdächtigen in deutschen Leitmedien so stark wie jetzt«, sagte Hestermann. Auftraggeber war der Mediendienst Integration, der Journalisten Daten und Analysen zum Thema Migration und Flucht zur Verfügung stellt.

Als Nennung einer ausländischen Herkunft von Verdächtigen gewertet wurden Angaben zur eigenen Staatsbürgerschaft oder der von deren Eltern sowie Hinweise auf einen nur für Nichtdeutsche möglichen Status wie »Asylbewerber« oder »Bürgerkriegsflüchtling« in den Beiträgen.

Hestermann analysiert bereits seit 2007 durchgängig die Berichterstattung immer derselben TV-Sender wie auch die von »Bild« und »Welt«, der »Süddeutschen Zeitung«, der »Frankfurter Allgemeinen« und der »Taz« zu Gewaltdelikten. Das Ergebnis für das Frühjahr dieses Jahres: In Fernsehbeiträgen dazu waren bei Nennung der Herkunft von Tätern oder Tatverdächtigen 94,6 Prozent von ihnen Nichtdeutsche, in Zeitungsartikeln 90,8 Prozent. Demgegenüber sind in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) nur 34,3 Prozent der Tatverdächtigen Nichtdeutsche.

»Noch nie war die Überrepräsentation von ausländischen Tatverdächtigen in deutschen Leitmedien so stark wie jetzt.«

Thomas Hestermann Lehrstuhl für Journalismus an der Hochschule Makromedia in Hamburg

Dazu kommt, dass die PKS selbst diesbezüglich bereits ein verzerrtes Bild liefert. Darauf hatte das BKA als Herausgeber der Datensammlung für das vergangene Jahr ausdrücklich hingewiesen. Die PKS spiegelt generell nur angezeigte Delikte und Tatverdächtige wider, also nicht zweifelsfrei ermittelte Täter.

Gina Wollinger, Professorin für Kriminologie und Soziologie an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen, bestätigt, dass wichtige Merkmale von Tätern und Tatverdächtigen vor allem sozioökonomischer Natur sind: In ihrer Mehrzahl sind sie junge Männer. Wollinger betonte bei der Vorstellung der Hamburger Untersuchung, es sei »nicht die Migrationsgeschichte, nicht der Pass, sondern es sind bestimmte Risikofaktoren wie Armut, Perspektivlosigkeit und eigenes Gewalterleben«, die die Wahrscheinlichkeit erhöhten, dass jemand gewalttätig wird.

In Wirklichkeit steige seit über zehn Jahren der Ausländeranteil an der Bevölkerung der Bundesrepublik. Dies habe aber eben nicht zu steigender Gewaltkriminlalität geführt, betonte Wollinger. Stattdessen gebe es eine »Migrantisierung von Kriminalität, eine völlige Überbetonung von Kultur – eine Kategorie, die nur herangezogen wird, wenn es sich um nichtdeutsche Täter handelt«.

»Es gibt eine Migrantisierung von Kriminalität, eine völlige Überbetonung von Kultur – eine Kategorie, die nur herangezogen wird, wenn es sich um nichtdeutsche Täter handelt.«

Gina Wollinger Professorin für Kriminologie und Soziologie, Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW

Tatsächlich zeigt Hestermanns Auswertung, dass innerhalb der Berichterstattung über kriminelle Ausländer überwiegend Verdächtige aus muslimisch geprägten Ländern im Mittelpunkt stehen. Sie sind laut der Untersuchung sogar vierfach überrepräsentiert. Fast drei Viertel der ausländischen Tatverdächtigen in den Medienberichten stammen nämlich aus solchen Staaten (TV 70,3 Prozent, Print 70,1 Prozent). Demgegenüber kommen laut Kriminalstatistik nur 15,8 Prozent der Verdächtigen bei Gewaltdelikten aus solchen Ländern.

Behauptetes Tabu

Wollinger konstatierte auch, dass rechten Politiker und ander Akteure immer noch behaupten, »Migration in Zusammenhang mit Kriminalität zu bringen«, sei ein Tabu. »Das ist Unsinn, das Gegenteil ist der Fall«, betonte die Kriminologin. Das »Narrativ der Tabuisierung« trage vielmehr mit zur überproportionalen Beleuchtung von Taten mit ausländischen Verdächtigen bei. Auch die Änderung des Pressekodexes 2017, der zufolge Nationalität, Religion, Ethnie von Verdächtigen genannt werden darf, wenn dies »im öffentlichen Interesse« sei, zeige dies.

Dabei zeige sich auch hier eine Voreingenommenheit: »Was ist wirklich im öffentlichen Interesse?«, fragte Manfred Protze, Sprecher des Deutschen Presserats. Er erinnerte an die schlimmen Folgen, die die explizite Aufforderung durch Hitlers Propagandaminister in der Zeit des deutschen Faschismus hatte, Hautfarbe und andere Merkmale von Verdächtigten, zu nennen. Der Pressekodex sage: »Wir wollen mit Berichterstattung die Öffentlichkeit über das unterrichten, was ist, aber wir wollen nie wieder einen Beitrag leisten zu dem, was wir im Umgangsdeutsch als Sippenhaft bezeichnen.«

Protze konstatierte außerdem, dass mittlerweile die Polizei über ihre X- und andere Social-Media-Kanäle eine eigenständige Rolle spiele. Sie stelle »eine eigene Gegenöffentlichkeit her, soziale Medien fühlen sich nicht an ethische Regeln gebunden, da entsteht eine andere Welt«. Die Polizei verstärke durch eigene Wertungen und Angaben zur Herkunft von Verdächtigen Erregungswellen. Früher, so Protze, seien Pressemitteilungen von Polizeipräsidien in den Redaktionen gelandet. Heute würden sie direkt verbreitet.

Debatten um Merz-Äußerung

Indirekt hat auch Bundeskanzler Friedrich Merz dieser Tage einmal mehr suggeriert, dass Ausländer das Land unsicher machen. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz am Dienstag mit Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke hatte der CDU-Vorsitzende berichtet, seine Regierung korrigiere frühere Versäumnisse in der Migrationspolitik, mache dabei große Fortschritte und dränge so die AfD zurück. Aber, fügte Merz hinzu: »Wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem, und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang auch Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen.«

Der Satz verbreitete sich in sozialen Medien und wurde vor allem von linken Akteuren scharf kritisiert. Merz hatte schon früher mit nie zurückgenommenen Falschbehauptungen darüber von sich reden gemacht, dass ausreisepflichtige Geflüchete dafür sorgen, dass Deutsche keinen Zahnarzttermin bekommen. CSU-Chef Markus Söder hatte sich Ende September im »Münchner Merkur« für mehr Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien ausgesprochen – und gefordert, dass sich das Stadtbild wieder verändern müsse.

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer sprang derweil seinem Parteivorsitzenden zur Seite. Im »Spitzengespräch« des »Spiegel« sagte er am Donnerstagabend: »Die Zeitungen sind voll von Gewalttaten. Menschen, von denen wir dann feststellen, dass sie eigentlich vollziehbar ausreisepflichtig sind.« Es sei nicht damit getan, dass die Anzahl der Menschen, die nach Deutschland kämen, reduziert werde, sondern es müsse auch gelingen, »unsere Normen, unsere Werte durchzusetzen«. Es gebe aber »eben Menschen, die aus anderen Kulturkreisen kommen« und die »nicht dazu bereit sind, nicht willens sind, sich an unsere Regeln zu halten«, behauptete Kretschmer. Neben Kriminalität beschäftige die Menschen auch die Frage, ob Migranten »zum Wohlstand Deutschlands beitrügen«.

Widerspruch zu Merz äußerte Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU). »Berlin ist eine vielfältige, internationale und weltoffene Stadt. Das wird sich immer auch im Stadtbild abbilden«, sagte er dem »Tagesspiegel«. Es gebe ein Problem »mit Gewalt, Müll und Kriminalität in der Stadt. Aber das kann man nicht an der Nationalität festmachen«. Grüne und Linke hatten die Äußerung scharf kritisiert.

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