Noch Drückeberger

Yossi Bartal fragt sich, ob er in faschistischer werdenden Zeiten noch Pazifist bleiben kann

Eine mit Strickware bedeckte Kanone eines Panzers
Eine mit Strickware bedeckte Kanone eines Panzers

Für Pazifisten sind es keine einfachen Zeiten. Neulich fragte mich ein befreundeter, politisch jedoch anders verorteter Journalist, ob ich mit ihm zu einer Schießübung kommen wolle. Ich war überrascht über mich selbst, dass ich den Gedanken nicht sofort verworfen habe. Im Gegensatz zu ihm fürchte ich keine russische Invasion und sehe keine Notwendigkeit, mich darauf vorzubereiten – weder mit einer Waffe in der eigenen Hand noch mit derjenigen anderer. Im Gegenteil: Ich bin nach wie vor überzeugt, dass der mit mehreren hundert Milliarden Euro subventionierte Militarismus unsere Gesellschaft weitaus stärker bedroht als irgendwelche Schurken im Ausland. Warum habe ich also trotzdem kurz überlegt, mit auf den Schießplatz zu gehen?

Yossi Bartal

Yossi Bartal ist seit 2006 ein begeisterter Wahl-Neuköllner. Aufgewachsen in West-Jerusalem lernte er früh, dass Selbsthass die edelste Form des Hasses ist. Mit einer gesunden Dosis Skepsis gegenüber Staat und Gesetz schreibt er für nd.Digital jeden dritten Montag im Monat über Parallelgesellschaften, (Ersatz-) Nationalismus und den Kampf für eine bessere Welt.

Vielleicht, weil selbst bei mir die Entwicklungen der letzten Jahre meine Grundüberzeugungen zu Gewalt und Gewaltfreiheit ins Wanken gebracht haben. Darüber öffentlich zu sprechen, auch in weniger katastrophalen Zeiten, ist natürlich schwer, wenn nicht unmöglich. Denn wer Gewalt, die nicht vom Staat oder seinen Verbündeten ausgeht, nicht reflexhaft verurteilt, ihre Gründe zu erklären versucht – oder sie gar rechtfertigt –, muss mit harten Konsequenzen rechnen. Selbst ein junger Satiriker wurde kürzlich von der Berliner Staatsanwaltschaft wegen »Billigung von Straftaten« angeklagt, weil er Witze über das Attentat auf einen faschistischen Massenmörder wie Trump machte.

Die letzten Jahre haben meine Grundüberzeugungen zu Gewalt und Gewaltfreiheit ins Wanken gebracht.

Unter solchen Bedingungen lässt sich keine offene und gleichzeitig öffentliche Debatte über den Sinn und Unsinn von Aktionen führen, die Ulrike Meinhof einst als »Gegengewalt« bezeichnete. Das Gleiche gilt für den bewaffneten Widerstand kolonialisierter Völker. Denn in einer Gesellschaft, die Auslandseinsätze und Polizeigewalt als Ausdruck von Demokratie feiert, während sie strukturelle Gewalt in Gestalt von Rassismus, Ausbeutung und ökologischer Zerstörung totschweigt, kann man jene Gegenwehr – so ungezielt oder verzweifelt sie auch sein mag – nicht einfach pflichtschuldig verurteilen.

Doch umgekehrt gilt: So bekannt die Heuchelei der bürgerlichen Demokratie unter Linken auch ist, sie taugt an sich nicht als Rechtfertigung für gewaltsame Reaktionen. Denn wie überall zu beobachten, prallen aus Frust und berechtigtem Unrechtsgefühl geborene Gewaltfantasien schnell auf die harte Realität. Ohne Rückhalt in breiten Teilen der Bevölkerung mündet Widerstand meist in Isolation und blinde Aggression – und stärkt am Ende die Macht des Staates. Auch moralisch führt der Einsatz tödlicher Mittel unweigerlich zur Brutalisierung und steht im Widerspruch zu emanzipatorischen Grundsätzen. Darum kann Gewalt, die darauf abzielt, Menschen zu töten, für linke Bewegungen, wenn überhaupt, nur die allerletzte Option sein.

Warum also kommen mir zuletzt Zweifel an meinen pazifistischen Prinzipien? Der nicht sehr langsame Abschied von der liberalen Demokratie, mit all ihren ohnehin unfairen Spielregeln, und der gleichzeitige Aufstieg verbrecherischer Politik – in der die Exekution von Fischern in der Karibik, mörderische Pushbacks im Mittelmeer oder die Bewaffnung eines genozidalen Staates zur offiziellen Politik gehören – führen unweigerlich dazu, dass Gegengewalt nachvollziehbarer erscheint. In Zeiten wie diesen, in denen die Straflosigkeit herrscht, erscheint die Versuchung naheliegend, auf den einen Einzelnen zu hoffen, der mit einem Schuss eines der vielen Monster stoppt, die ungehindert die Welt verwüsten und damit, – wenn auch nur in sehr begrenztem Umfang – eine Art Gerechtigkeit wiederherstellt.

In einer nicht unähnlichen Zeit beobachtete der im Exil lebende Revolutionär Leo Trotzki – wahrlich kein Mensch mit pazifistischen Neigungen –, dass »die Politik der faschistischen Gangster direkt und zuweilen mit Vorbedacht terroristische Akte provoziert«. Er bezog sich auf das Attentat des 17-jährigen Juden Herschel Grynszpan auf einen Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Paris im November 1938 – ein Racheakt, nachdem seine Eltern mit Tausenden anderen sogenannten Ostjuden, zu denen auch meine Urgroßeltern gehörten, aus Deutschland deportiert worden waren. Trotzki lobte den »jungen, unerfahrenen Menschen, fast ein Kind, dem das Gefühl der Empörung der alleinige Ratgeber war«, warnte jedoch eindringlich davor, die »Taktik des individuellen Terrors« als Mittel des revolutionären Kampfes zu übernehmen.

Die Empörung angesichts des Weltgeschehens, die Entrüstung über die Unverfrorenheit der Mächtigen, sollten uns in der Tat zum Handeln motivieren – auch zu radikalen Schritten, die nicht immer den Gesetzbüchern entsprechen. Bewaffnete Gewalt aber bleibt das Feld jener, die eine solidarische und gerechte Welt am meisten fürchten; militärische Logik ist und bleibt ein rechtes Terrain. Deshalb bleibe ich, ein stolzer Drückeberger, weiterhin jeder Schusswaffe fern.

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