- Wirtschaft und Umwelt
- Steuerfreie Mehrarbeit
Überstunden: Steuergeschenk von 14 Minuten
Von steuerfreien Zuschlägen bei Überstunden profitieren die Wenigsten
»Leistung muss sich wieder lohnen« – mit diesem Leitspruch trat die Union den Bundestagswahlkampf an. Ironisch, denn wie die Soziolog*innen Nicole Mayer-Ahuja und Oliver Nachtwey bereits 2021 analysierten, entwertete Arbeit vor allem die Kohl-Schröder-Merkel-Ära (Union-SPD-Union). Schon unter Bundeskanzler Helmut Kohl wurde der Ruf nach sich lohnender Leistung demnach schnell in Steuersenkungen übersetzt. Durch sie verzichtete der Staat auf Einnahmen, die in den folgenden Jahren für die Finanzierung öffentlicher Dienstleistungen fehlten. Gekürzt wurden insbesondere Personalkosten, wie die beiden feststellten.
Auch derzeit planen Union und SPD, Zuschläge bei Überstunden von Steuern zu befreien – ein Wahlversprechen der Union. Das soll zu Mehrarbeit anregen und dabei helfen, den Arbeitskräftemangel auszugleichen. Das Steuergeschenk würde bei Beschäftigten aber kaum ankommen, wie Berechnungen der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung ergeben. Über alle Beschäftigten gerechnet wären mit der neuen Regelung rund 0,87 Euro Bruttoentgelt im Monat steuerbegünstigt. Darüber hinaus würden Frauen und Geringverdienende benachteiligt.
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»Bezahlte Überstunden sind inzwischen eher ein Randphänomen«, erklärt Studienautor Malte Lübker in einer Aussendung. Nur 5,1 Prozent der Beschäftigten erhielten beispielsweise im April 2024 Auszahlungen für Überstunden. Laut Ergebnissen des sozio-ökonomischen Panels von 2023 waren es in dem Jahr 6,8 Prozent. Nur 1,8 Prozent der Beschäftigten bekommt Überstunden darüber hinaus mit einem Zuschlag ausgezahlt. Der Anteil sinkt weiter auf 1,3 Prozent, weil die neue Regelung bis auf wenige Ausnahmen nur für Überstunden gelten soll, die über Vollzeittätigkeiten hinausgehen. Pro begünstigtem Beschäftigten fallen den Berechnungen nach zudem nur etwa 14 Minuten pro Monat unter die Steuerbegünstigung.
Da Frauen erheblich häufiger in Teilzeitbeschäftigung arbeiten, profitieren sie zu 0,5 Prozent, Männer dagegen zu 2,2 Prozent von der Steuerfreistellung. Beschäftigte in Westdeutschland hätten mehr von der Reform (1,5 Prozent) als solche in Ostdeutschland (0,9 Prozent). Personen mit höherem Gehalt zahlen darüber hinaus mehr Steuern als Menschen mit geringerem Einkommen. Sie würden demnach mehr profitieren. »Insgesamt zeigt sich somit, dass insbesondere Männer und Vollzeitbeschäftigte begünstigt werden. Aber auch in diesen beiden Gruppen würde nur jede*r Vierzigste von den Plänen der Koalition profitieren«, schreibt Lübker.
Bisher kritisierten Ökonom*innen an der geplanten Neueregelung, dass die Mehrarbeit Gesundheitsrisiken mit sich bringe, sich diskriminierend auswirken könnte und die Bürokratiekosten steigen könnten. Zu den Entlastungswirkungen der Reform fehlten bisher gesicherte Angaben.
Das vorliegende Ergebnis sei »ernüchternd« und weise auf einen »drängerenden Handlungsbedarf bei Überstunden hin – allerdings abseits einer Steuerbefreiung für Zuschläge«, schreibt Lübker. In Bereichen mit hohem Arbeitskräftebedarf sammeln Beschäftigte oft eine hohe Anzahl an Überstunden an, können sie aber nicht abbauen. Ihnen solle deshalb die Wahl gelassen werden, sie sich auszahlen zu lassen.
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