Hohe Dunkelziffer bei Behandlungs­­fehlern

Experten für gesetzliche Stärkung der Fehlerkultur im Gesundheitswesen

Sicherheit gefragt: Auch nach der OP sollten alle Instrumente außerhalb des Patienten sein.
Sicherheit gefragt: Auch nach der OP sollten alle Instrumente außerhalb des Patienten sein.

Einmal im Jahr stellt der Medizinische Dienst (MD) seine Behandlungsfehlerstatistik vor. Die Organisation ist Beratungs- und Begutachtungsdienst für die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung, von denen sie jeweils hälftig finanziert wird. Die Daten für das Jahr 2024 wurden am Donnerstag in Berlin bekannt gegeben.

Demnach erstellte der MD bundesweit 12 304 fachärztliche Gutachten zu vermuteten Behandlungsfehlern. In einem Viertel der Fälle wurden von den Gutachtern auch Schäden festgestellt, und in jedem fünften Fall waren die Fehler ursächlich für den erlittenen Schaden. Die Schäden sind teils dauerhaft und können bis zu anhaltender Pflegebedürftigkeit führen. Zudem wurden 75 Todesfälle durch medizinische Fehler ermittelt.

Behandlungsfehler sind häufig schmerzhaft und folgenreich für die einzelnen Patienten, wobei alle Experten, darunter die von den Krankenkassen, davon ausgehen, dass es sich bei der Zahl der bekannt gewordenen Fälle nur um einen Bruchteil der tatsächlichen Fehler handelt. Insofern kann es nicht optimistisch stimmen, dass die Zahl der insgesamt beauftragten Gutachten nur minimal zurückgegangen ist.

»Die Folgen von Behandlungsfehlern verschlingen nicht nur viele Mittel, sondern diese fehlen dann auch für die Prävention oder in der Versorgung.«

Reinhard Busse TU Berlin

Für die vermutete hohe Dunkelziffer gibt es mehrere Ursachen. Laut der Krankenkasse IKK classic trauen sich viele Patienten nicht, erkannte Fehler zu melden. Oder sie sind nicht in der Lage, selbst ein solches Geschehen zu erkennen: »Die Hemmschwelle, einen Verdacht zu äußern, ist immer noch groß«, so Juliane Mentz von der IKK classic. Die Hemmungen sind aber auch deshalb groß, weil es kein etabliertes System gibt, das die Patientensicherheit in solchen Fällen umfassend stärkt. Unter anderem liegt die Beweislast bei vermuteten Behandlungsfehlern grundsätzlich bei den Versicherten. Nur bei ganz groben Fehlern ist das nicht so.

Zudem gehört es in Deutschland nicht zu den Pflichten von Behandlern, im Fall von Fehlern proaktiv auf die Patienten zuzugehen und sie zu informieren. In anderen Ländern gibt es solche Regeln bereits. Sie stärken die Fehlerkultur und das gegenseitige Vertrauen. »Oft geht es den Patienten gar nicht um Schadenersatzzahlungen. Viele wollen nur verstehen, was passiert ist, und vielleicht eine Entschuldigung«, erläutert Stefan Gronemeyer, Vorstandsvorsitzender des Medizinischen Dienstes Bund.

Hinweise auf die Zahl der tatsächlichen Fälle lassen sich aus internationalen Studien entnehmen, worauf Reinhard Busse hinweist. Der Mediziner und Public-Health-Experte hat an der TU Berlin eine Professur für Management im Gesundheitswesen inne. Wissenschaftliche Untersuchungen gehen einerseits davon aus, dass nur drei Prozent aller vermeidbaren Schadensfälle nachverfolgt und erfasst werden. Andererseits wurde festgestellt, dass international schon im stationären Bereich jedes Jahr fünf Prozent der Patienten durch vermeidbare Behandlungsfehler Schäden erleiden.

Auf Deutschland bezogen wären das 800 000 Betroffene. In diesen Fällen entstehen Kosten für Folgeeingriffe, Invalidität, Pflegebedürftigkeit bis hin zum Tod, geschätzt 15 Prozent der gesamten Krankenhauskosten. Hierzulande würde dafür ein Betrag von 15 Milliarden Euro anfallen.

Busse kritisiert, dass die ökonomischen Schäden der unerwünschten Ereignisse und Fehler in Deutschland deutlich unterschätzt werden. »Die Folgen von Behandlungsfehlern verschlingen nicht nur viele Mittel, sondern diese fehlen dann auch für die Prävention oder in der Versorgung«, meint Busse. Jedoch sollte in der Folge nicht davon ausgegangen werden, dass Behandlungsfehler nur in Kliniken auftreten: »Auch in der ambulanten Versorgung oder in der Pflege gibt es sie, dort sind sie nur noch weniger gut erforscht«, so MD-Chef Gronemeyer.

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Zu den hohen Fehler-Fallzahlen trägt aber auch bei, dass es hierzulande im Vergleich zu vielen Nachbarländern deutlich mehr Krankenhausbehandlungen gibt. Die Schweiz hat nur ein Viertel, Dänemark nur halb so viele stationäre Fälle je 100 000 Einwohner. In Skandinavien sei zudem die Meldekultur besser. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft stellt allerdings derartige Übertragungen von internationalen Daten und Studienergebnissen infrage: Die Gesundheitssysteme seien zu unterschiedlich, ebenso die Auffassungen und Definitionen von Fehlern.

Zur Stärkung der Fehlerkultur im deutschen Gesundheitswesen fordert unter anderem der MD ein Register für sogenannte Never Events. Das sind schwerwiegende Vorfälle in der medizinischen Behandlung, die eigentlich vermeidbar wären – Beispiele sind Seiten- und Patientenverwechslungen, im Körper verbleibende chirurgische Instrumente oder schwere Medikationsfehler. Für 2024 erfasste der MD 134 solcher Ereignisse, immerhin 17 weniger als im Jahr zuvor.

Ein Meldesystem dafür müsste obligatorisch und sanktionsfrei sein, sagt Gronemeyer. Hier handele es sich nicht um Fehler Einzelner, sondern die Ursachen seien Risiken im Versorgungsprozess. Ein Register für solche Fälle sollte laut Gronemeyer »keinen Grund schaffen, dass Ereignisse nicht gemeldet werden«. Auch eine komplett anonyme Fehlermeldung bringe hier nichts, weil dann die Analyse unmöglich wäre. Zu einem solchen Register gehören dann auch Regeln, wie gemeldete Fehler verpflichtend in alle Einrichtungen – etwa Krankenhäuser – zurückgemeldet werden, verbunden mit Sicherheitshinweisen.

Bislang werden nach MD-Erfahrungen etwa Checklisten bei Operationen nur auf freiwilliger Basis eingesetzt, unter anderem dann, wenn sich Einzelne engagieren. Insgesamt sollte die Entwicklung einer besseren Fehlerkultur im Gesundheitswesen ernster genommen, also zur allgemeinen Pflicht werden, sind sich die Experten einig. Insofern müsse ein Register für Never Events eigentlich nicht mehr erprobt oder erforscht werden, wie jetzt in einem Projekt des Innovationsfonds für das Gesundheitswesen vorgesehen.

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