Mehr Konsum statt Geselligkeit

Christoph Ruf beobachtet eine Vereinzelung unserer Gesellschaft und ist überzeugt: Im Kapitalismus ist diese gewollt

Kapitalismus – Mehr Konsum statt Geselligkeit

»Daheim sterben die Leut’«, ist nicht nur ein Film aus den Achtzigern, sondern eine ziemlich gelungene Zustandsbeschreibung dieser Gesellschaft. Schauen Sie in die Papiertonne ihres Vertrauens, und Sie sehen vor lauter Pizzakartons keinen Wald mehr. Die Trattoria »Napoli« und der »Dorfkrug« sind dafür leer, vielleicht auch, weil die Betreiber es für eine gute Idee hielten, 24 Euro fürs Schnitzel zu verlangen. Und acht fürs Glas Wein, das im Einkauf zweifuffzich kostet – pro Flasche.

Das ist schade, denn es ist noch nicht lange her, da war Essen-Gehen noch so erschwinglich, dass man danach noch eine Weile sitzenblieb und – ja liebe Kinder, so war das wirklich – mit anderen Menschen ins Gespräch kam. Dass sich abendliche Kommunikation heute oft darauf beschränkt, mit dem »Lieferando«-Menschen zwei Worte zu wechseln, kommt nicht nur »Lieferando« entgegen. Vereinzelung ist gesellschaftlich gewollt, denn wenn der Kapitalismus »Individualisierung« sagt, meint er Vereinzelung. Individualisierung macht aus geselligen Wesen in den seltensten Fällen Individuen und in den meisten: Konsumenten.

Christoph Ruf

Christoph Ruf ist freier Autor und beobachtet in seiner wöchentlichen nd-Kolumne »Platzverhältnisse« politische und sportliche Begebenheiten.

So wie jedes Jahr, in dem man seinem Kind das Smartphone vorenthält, ein gewonnenes ist, so ist auch jede Stunde im Sportverein, im Chor oder beim gemeinsamen Abendessen eine gewonnene. Nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich. Wer zu siebt am Stammtisch sitzt oder dem Nachwuchs mit anderen Eltern beim Kicken zuguckt, trifft mit höherer Wahrscheinlichkeit auf andere Meinungen als in der eigenen Filterblase. Umso trauriger, dass seit Langem auf vielen Ebenen alles dafür getan wird, dass die Gesellschaft sich weiter atomisiert. Eine schöne Idee wäre es, in diesem Zusammenhang auch mal die Folgen der Digitalisierung zu Ende zu denken. Doch die ist interessanterweise die einzige Kuh, auf deren Heiligkeit sich von links bis rechts außen alle verständigen können.

Ein banaleres Beispiel: Die Preispolitik der Pay-TV-Anbieter im Fußball ist so angelegt, dass sie es Kneipiers Jahr für Jahr schwerer macht, in ihren Räumen noch die Bundesliga zu zeigen. Und auch das ist gewollt, denn der ideale Sky-Kunde ist derjenige, der zu Hause sitzt und alleine mit seiner Tüte Chips zuschaut, wie Bayern das 128. Spiel in Serie gewinnt. 20 Einzel-Abos bringen eben mehr als 20 Menschen, die in der Sports-Bar gucken. Nur, dass die sich während des Spiels noch unterhalten oder danach zusammen Darts spielen.

Fußball als »letztes Lagerfeuer der Gesellschaft«, wie es der ehemalige DFB-Präsident Fritz Keller formuliert hat? Falsch ist das nicht, wenn man an die oft ausverkauften Stadien denkt. Aber in der Fläche gibt’s eben doch kein Lagerfeuer, sondern nur viele leuchtende Fernseher, vor denen jeweils ein einzelner Mensch sitzt. Keller ist übrigens auch Winzer und Gastronom aus einem Dorf mit 1000 Einwohnern. Er weiß, dass es noch vor gar nicht allzu langer Zeit die Gastronomie war, die als Lagerfeuer diente. Und auch die siecht dahin. 15 000 Restaurants und Kneipen haben im vergangenen Jahr schließen müssen, das entspricht in etwa der Einwohnerzahl von Füssen oder Weißwasser. Zu Hause sterben die Menschen. Viele davon lange vor ihrem Tod.

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