- Kultur
- Linke Literatur
Christian Geissler: Die Mühe ums Leben
»Wir sind nur das, was wir gegen sie tun«: Literatur und Aktivismus bei Christian Geissler
Christian Geissler (1928–2008) war antifaschistisch radikal und eigensinnig. Er hat Romane und Gedichte, Hörspiele und Fernsehspiele geschrieben. Außerdem trat er als Redner auf Demonstrationen oder mit politischen Initiativen auf. Sein zentrales Thema war die Frage nach wirksamen Konsequenzen aus Faschismus und Krieg und damit verbunden nach der Verantwortung des Einzelnen.
In einer Antikriegsrede 1965 erklärt er: »Herrschende Klassen können den Krieg immer nur scheinbar bekämpfen, denn genau das gesellschaftliche System, das sie zur herrschenden Klasse macht, macht auch den Krieg.« Oder anders, im Rückblick, in einem Interview 1998: »Wenn man über das Moralische des Antifaschismus hinauswill in einen anwendbaren Antifaschismus, kommt man auf Marx.« Diese Konsequenz trennt ihn von Grass, Walser oder Enzensberger und der Gruppe 47. »Wir sind nur das, was wir gegen sie tun«, heißt es in seinem Roman »kamalatta« (1988). Es geht bei ihm stets um die Einheit von Text und Tat.
In seinem Debüt »Anfrage« (1960) fragt der Protagonist Köhler nach »der Schuld des Verschweigens, der Schuld der bequemen Ratlosigkeit, der Schuld der Nachlässigkeit im Denken, der Schuld der Unaufmerksamkeit aus Angst«. Die Rahmenhandlung zeigt einen NS-Prozess. Richter und Staatsanwalt wollen den Freispruch: Der Angeklagte soll sich rausreden. Das ist in dieser Zeit die Normalität. Doch Köhler bekennt sich schuldig: »Ich habe einen Sohn. Es ist besser für einen Sohn, er hat einen schuldigen Vater, der seine Schuld kennt, als er hat einen nicht zurechnungsfähigen Vater.« Ist er verrückt? Nein, er ist absolut vernünftig und entlarvt so die im Roman erzählte »Normalität« des Schweigens und Verdrängens als verrückt.
Die Wucht dieses Textes speist sich daraus, wie hart an der Realität Geissler die Geschichte erzählt, wie er mit den sprachlichen Sedimenten der NS-Ideologie arbeitet, unhinterfragte Denkmuster aufspießt und in pointierten Dialogen zerstört: »Wie die wohl ausgesehen haben?«, fragt die Sekretärin den Protagonisten, der von der Deportation einer jüdischen Familie erzählt. »Wie Teufel? Glauben Sie?«, entgegnet Köhler. »Nein, nicht die Juden – ich meine die, die es getan haben.« Köhler: »Die meine ich auch!« Er holt ein Foto aus der Tasche. »So haben sie ausgesehen, die es getan haben. So wie mein Vater, und wie Ihrer, wenn Sie erlauben.« Das sitzt. Das provoziert. Das fordert Haltung.
Die Realität kennt keine einfachen Wahrheiten, sie ist voller Widersprüche. Diese Erfahrung prägte Geissler und sein Schreiben. Sein Vater war schon vor 1933 Mitglied der NSDAP, seine Mutter charakterisiert er als »antinationalsozialistisch aus Kenntnis und Instinkt«. Mit 16 muss er als Flak-Helfer in den Krieg. Er überlebt, weil sein Offizier kurz vor Kriegsende nicht mehr mitgemacht hat und mit der ganzen Gruppe desertiert. Zwei Brüder der Mutter sind Mitglied der KPD und im Moskauer Exil. Der eine wird dort 1937 im Rahmen der stalinistischen Säuberungen erschossen. Der andere steigt in der DDR zum führenden Kulturfunktionär auf. Sein Name: Alfred Kurella.
So handeln Geisslers Bücher davon, wie man in einer widersprüchlichen Realität zu einer eigenen Haltung gelangt. Er kratzt damit an betrügerischen Konventionen, die die Sätze widerstandslos ins Gehirn träufeln lassen. »Unseren gefallenen Söhnen in Dankbarkeit« – so trauern die Väter nach dem Krieg. Geissler fragt: »Sind diese Menschen hier einfach hingefallen? So lügen wir uns mit unserer Alltagssprache um die Wahrheit herum. Hier ist niemand hingefallen. Hier sind lebendige Menschen unter Geschrei und Gestank zuschanden gemacht worden. […] Was heißt Dankbarkeit in dieser Sache?«
Das erste Buch ist kaum erschienen, da steht Geissler schon im Zentrum der politischen Kontroversen. Das soll so bleiben. Er demonstriert gegen die atomare Aufrüstung der Bundeswehr, den Vietnamkrieg und die Notstandsgesetze, spricht auf Kundgebungen der Ostermärsche, tritt der verbotenen KPD bei und – nach Prag 1968 – wieder aus. In den 70er Jahren setzt er sich für bessere Haftbedingungen der RAF-Gefangenen ein. Zu Beginn einer politischen Rede stellt er sich vor: »Ich komme aus einer ganz gewöhnlichen freundlichen Hamburger …« – der Satz vervollständigt sich fast von selbst: Kaufmanns- oder Kapitänsfamilie? Geissler: »Ich komme aus einer ganz gewöhnlichen freundlichen Hamburger Nazifamilie.« Noch 2005, mit Ende 70, fragt er, was es bedeutet, Kommunist zu sein.
Sein Standpunkt ist, pathetisch formuliert, der des »Lebens«, das nicht in die Mangel genommen, von Gewalt bedroht oder der Ratio der Verwertbarkeit unterworfen werden soll. Das klingt abstrakt, aber deswegen wird ja erzählt. So werden Interessen und Konflikte, Widerstand und die »Mühe ums Leben« konkret und erfahrbar – ohne das Versprechen, dass die Kämpfe je an ein Ziel führen. Vom Glauben ist Geissler abgefallen.
»Wir sind nur das, was wir gegen sie tun« – seine als Trilogie des Widerstands bezeichneten Romane »Das Brot mit der Feile« (1973), »Wird Zeit, dass wir leben« (1976) und »kamalatta« (1988) erzählen vom politischen Aufbruch in den 60er Jahren, vom Widerstand Anfang der 30er und den Auseinandersetzungen in den 70er Jahren bis zum »bewaffneten Kampf«. Diese Trilogie wurde politisch diskutiert und als literarische Avantgarde wahrgenommen. Sie bleibt aktuell, weil sie noch heute gültige Fragen stellt.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
In »kamalatta« droht ein Kind zu erblinden. Die Chancen einer Operation stehen 50:50: Leben und sehen können oder sterben. Was ist das Leben des Jungen noch wert, wenn er erblindet? NS-Aussagen über »lebensunwertes Leben« und die Erfahrung der Euthanasie stehen im Raum. Aber es handelt sich um das Kind einer Genossin. Sie will, dass der Junge ein Kämpfer wird. Sie flüchtet sich in die politische Arbeit. Um den Sohn kümmern sich andere – ohne die Operation.
Ebenfalls in »kamalatta« bereitet eine bewaffnete Gruppe einen Anschlag auf eine Nato-Tagung vor. Die Tagung findet in einer ehemaligen SS-Junkerschule statt, auch hier der Bezug zum Faschismus. Auch hier geht es ums Leben. Der Protagonist sucht die Nähe zu dieser Gruppe. Unterwirft er sich ihrem Zwang zur Disziplin? Übernimmt er Verantwortung in der »mühe ums leben«, indem er sie abgibt? Die Widersprüche betreffen den Kern der eigenen Existenz. Geissler hat sie nicht auflösen können.
Mit »Wildwechsel mit Gleisanschluss« (1996) entwirft Geissler das albtraumhaft-düstere Bild eines Landes, wie er es beinahe schon wieder für möglich hält: Die Grenzen werden dichtgemacht, alles Fremde wird zum Abschuss freigegeben, neoliberales Wirtschaften geht über Leichen. Bilder stürzen ineinander, Sprachebenen und Versatzstücke prallen aufeinander, von denen man nur erahnen kann, woher sie kommen und wer hier spricht. Auch in diesem Text gibt es die Ebene des Widerstands. Vor allem als Sprache gewordenes Statement gegenüber einem übermächtigen politischen Trend ist auch dieser Text – ganz leise – eine Tat.
Kurzfassung eines Vortrags bei der Tagung »Zwischen Text und Tat: Literatur und Demokratievermittlung« in Heiligenstadt. Der Autor ist Vorsitzender der Christian-Geissler-Gesellschaft.
Wir haben einen Preis. Aber keinen Gewinn.
Die »nd.Genossenschaft« gehört den Menschen, die sie ermöglichen: unseren Leser*innen und Autor*innen. Sie sind es, die mit ihrem Beitrag linken Journalismus für alle sichern: ohne Gewinnmaximierung, Medienkonzern oder Tech-Milliardär.
Dank Ihrer Unterstützung können wir:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ Themen sichtbar machen, die sonst untergehen
→ Stimmen Gehör verschaffen, die oft überhört werden
→ Desinformation Fakten entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und vertiefen
Jetzt »Freiwillig zahlen« und die Finanzierung unserer solidarischen Zeitung unterstützen. Damit nd.bleibt.