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Magdeburg: »Viele fühlen sich in die Anfangszeit zurückversetzt«
Am Montag beginnt in Magdeburg der Prozess nach dem Weihnachtsmarkt-Attentat gegen Taleb A. – für viele Betroffene ein schwerer Tag
Am 21. Dezember 2024 raste Taleb A. mit einem Mietwagen über den Magdeburger Weihnachtsmarkt. Er tötete sechs Menschen und verletzte über 300 weitere; Sachsen-Anhalts Opferbeauftragte zählt insgesamt 1650 Betroffene. Am Montag beginnt der Prozess. Dann richtet sich der Blick vor allem auf den Täter. Es wird um den genauen Tathergang gehen, um die Suche nach einem Motiv und die Frage, ob Taleb A. schuldfähig ist.
Die Verhandlungen finden in einem eigens errichteten Gerichtsgebäude statt, um Platz für die über 170 Nebenkläger*innen zu schaffen. Wie geht es ihnen, den Betroffenen, kurz vor dem Prozess und gut ein Jahr nach den schrecklichen Ereignissen?
Der lange Weg von »Familie Montag«
Seit Februar treffen sich 12 bis 15 von ihnen montags im Trauerinstitut der Pfeifferschen Stiftungen. Mit dem »nd« sprechen möchten sie nicht, so kurz vor dem Prozess. Zu groß sei die Anspannung, erklärt Kirsti Gräf, die die Gruppe als Trauerpädagogin begleitet. Sie ist es, die sich in Absprache mit den Mitgliedern der »Familie Montag«, wie sich die Gruppe nennt, zu einem Gespräch bereit erklärt.
»Vor dem Prozessbeginn fühlen sich viele in die Anfangszeit ihres Weges zurückversetzt«, sagt Gräf. Sie höre wieder häufiger von Flashbacks, Panikattacken oder Schlafstörungen. »Viele Teilnehmende fragen sich, ob sie die emotionale Belastung bewältigen können.« Die Trauerbegleiterin beschreibt ein ambivalentes Gefühl: Einerseits fühle sich vieles wieder an wie zum Start der Gruppe im Februar, andererseits hätten die Betroffenen seitdem einen langen Weg hinter sich. »Viele sagen: Wir haben es bis hierher geschafft, wir haben schon so viel durchgestanden – das lassen wir uns nicht nehmen.«
Das Trauerinstitut versteht sich dabei als ergänzendes Hilfsangebot, zusätzlich etwa zur psychosozialen Notfallseelsorge oder zur Traumaambulanz. »Bei uns können Betroffene die gelernten Übungen ausprobieren, Dinge aussprechen, sich sortieren – und gemeinsam Erfolge feiern: das erste Mal wieder in einen Supermarkt gegangen zu sein oder sich in eine größere Menschenmenge getraut zu haben«, erklärt Gräf. Die Arbeit des Instituts finanziere sich teils durch Spenden und werde teilweise ehrenamtlich geleistet.
Großes Treffen im September
Simone Borris, die parteilose Oberbürgermeisterin Magdeburgs, lobt gegenüber »nd« das »große Engagement« von Menschen wie Kirsti Gräf. Auch die Stadt unterstütze die Betroffenen, nicht nur finanziell.
Im September luden die Landeshauptstadt und das Land Sachsen-Anhalt Betroffene und Hinterbliebene zum Austausch ein. »Mehr als 300 Personen nahmen daran teil, kamen untereinander ins Gespräch und nutzten zahlreiche Beratungsangebote«, sagt Borris. Einen Monat später, am 20. Oktober, wurden sechs Gedenkplatten eingeweiht – nahe dem Alten Markt, wo auch in diesem Jahr wieder der Weihnachtsmarkt stattfindet.
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Für den Jahrestag des Anschlages plant die Stadt gemeinsam mit der Kirche eine große Gedenkveranstaltung. Außerdem soll an diesem Tag ein Gedenkort eingeweiht werden. Dieser solle insbesondere den vielen Verletzten und allen Helfern sowie der breiten Öffentlichkeit einen Raum der Erinnerung bieten.
Doch es gibt auch Kritik. Nach dem Anschlag dokumentierte das Landesnetzwerk der Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt (Lamsa) eine Welle rassistischer Gewalt in Magdeburg. Die Zahl der gemeldeten Fälle rassistisch motivierter Übergriffe sei weiterhin erhöht, so Lamsa-Mitgründer und -Geschäftsführer Mamad Mohamad gegenüber »nd«. »Eine direkte Zusammenarbeit mit der Stadt Magdeburg hat bislang trotz mehrfacher Anfragen nicht stattgefunden.« Immerhin laufe der Austausch auf Landesebene besser.
Welle des Hasses
Offenbar fühlen sich Rechte ermutigt, Menschen mit vermeintlichem Migrationshintergrund auf offener Straße anzugreifen, weil der Todesfahrer aus Saudi-Arabien stammt. Experten wie der Sozialforscher Hans Goldenbau stufen den Anschlag als rechtsextremen Terrorakt ein und nicht als Tat eines psychisch auffälligen Mannes. Die Linke fordert, ein entsprechendes Gutachten von Goldenbau zu veröffentlichen. Denn der Generalbundesanwalt erkannte die Tat nicht als Terrorismus oder Staatsschutzfall an. Deshalb liegt das Verfahren beim Landgericht Magdeburg, nicht beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe.
Fatima ist eine derjenigen, die den rechten Hass nach dem Anschlag am eigenen Leib zu spüren bekommen haben. Die 22-jährige Intensivkrankenschwester kümmerte sich in der Nacht des Anschlags um Verletzte – und wurde dann selbst Opfer eines rassistisch motivierten Angriffs. Bereits Anfang des Jahres traf sich »nd« mit ihr. Heute erklärt sie in Bezug auf die rassistische Atmosphäre in ihrer Heimatstadt: »Ich würde sagen, es hat sich so ein bisschen wieder gelegt.«
Im Sommer habe sie manchmal das Gefühl gehabt, »dass die Welt in Ordnung sei, multikulti, bunt und schön.« Trotzdem steige sie nur mit Pfefferspray in die Bahn. Auch an dem Entschluss, mit ihrem Mann auszuwandern, halte sie fest. »Wir hören ja trotzdem jeden Tag von neuen rassistischen Angriffen, egal wie viele Demos gegen rechte Gewalt es gibt.«
Ein Jahr nach dem Anschlag
Zurzeit höre sie oft Gespräche darüber, wie die Weihnachtszeit wohl in diesem Jahr ablaufe. »Ich versuche mich, so gut es geht, zu schützen und ergreife besondere Vorsichtsmaßnahmen«, sagt Fatima. Dass sie hier nicht mit ihrem echten Namen genannt wird, ist eine davon.
Vielleicht ist der nahende Winter ein Grund, warum sich seit Anfang November eine zweite Gruppe im Trauerinstitut trifft. In der »Familie Montag« jedenfalls ist die Weihnachtszeit neben dem Prozessbeginn ein wichtiges Thema. »Statt T-Shirts tragen die Menschen wieder Jacken – oft dieselben wie im Dezember«, sagt Gräf. »Und die Büdchen am Alten Markt stehen wieder, wenn auch anders angeordnet.« Das versetze viele zurück in die Zeit des Anschlags.
Wird sich die Gruppe auch an diesem Montag, nach dem ersten Verhandlungstag, treffen? »Auf jeden Fall«, sagt Gräf. Das Angebot soll eine verlässliche Stütze bleiben. Seit Februar gab es jede Woche ein Treffen, ohne Unterbrechung. »Wir sind da, bieten Raum und Zeit, einen Kaffee oder Tee – um sich zu begegnen und aufgefangen zu werden.«
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