Tokio will mit den Deaflympics »die Gesellschaft verändern«

Bei den Weltspielen der Gehörlosen geht es um Medaillen und mehr Barrierefreiheit in Japan

  • Felix Lill, Tokio
  • Lesedauer: 4 Min.
Sichtbarer Dank der ukrainischen Basketballer nach dem Spiel gegen Japan bei den Deaflympics.
Sichtbarer Dank der ukrainischen Basketballer nach dem Spiel gegen Japan bei den Deaflympics.

Für Maki Yamada laufen die größten Tage seines Lebens. Werden es auch die schnellsten? »Ich gebe jedenfalls alles«, sagt der Leichtathlet. »Ich bin immerhin nicht so nervös. Bei den Deaflympics war ich schon zweimal dabei«, erklärt der 28-Jährige in Gebärdensprache. »Aber natürlich will ich ganz Japan stolz machen.« Dafür will er gewinnen. In Tokio geht Yamada über 200 und 400 Meter sowie mit den Staffeln über 4x100 und 4x400 Meter an den Start.

Nach den Olympischen und Paralympischen Spielen 2021 und den Leichtathletik-Weltmeisterschaften im Sommer ist Tokio einmal mehr so etwas wie die Welthauptstadt des Sports. Am Sonnabend wurden die Deaflympics eröffnet, die »Olympischen Spiele« für gehörlose Personen enden am 26. November. Und es sollen, wie so oft im Sport in Zeiten steigenden Bewusstseins für Diversität, die größten Deaflympics aller Zeiten werden. Rund 3000 Athletinnen und Athleten aus 80 Ländern kämpfen in 21 verschiedenen Sportarten um Goldmedaillen. Leichtathletik, Schwimmen oder Volleyball kennt man von Olympischen Spielen, Sportarten wie Bowling oder Orienteering gibt es nur bei den Deaflympics.

Bewusstsein stärken

Die Spiele der Gehörlosen sind heutzutage viel weniger bekannt als die Paralympics, aber deutlich älter. 1924, gut zwei Jahrzehnte vor den Paralympics, gab es die erste Ausgabe in Paris. Gründervater Eugène Rubens-Alcais, ein französischer Athlet, wollte das Bewusstsein für die Herausforderungen von Personen mit keinem oder schwachem Gehörsinn stärken.

Die Regeln sehen vor, dass Teilnehmende einen Hörverlust auf dem besser hörenden Ohr von 55 Dezibel nachweisen müssen. Das bedeutet, dass sie ohne Hörhilfe kein Geräusch wahrnehmen. In Wettkämpfen führt dies zu entsprechenden Vorkehrungen, zwei Beispiele: Beim Fußball hantieren Schiedsrichter nicht mit einer Pfeife, sondern einer Fahne. Beim Sprint ertönt kein Startschuss, ein Licht scheint auf.

Der Gehörlosensport genießt wohl weniger Aufmerksamkeit, weil sich die Aktiven sichtbar nur kaum von Menschen ohne Behinderungen unterscheiden. »Unsere Beeinträchtigungen sieht man nicht«, sagt Yamada. »Aber viele von uns haben durch das schwache Gehör zusätzliche Probleme, zum Beispiel beim Gleichgewicht.« So können Sprinter wie Yamada kaum die Geschwindigkeit von Usain Bolt erreichen, trotz gleicher Kraft und Explosivität.

Drei Leitideen

Auch vor dem Hintergrund dieser Unsichtbarkeit betont Naoki Kurano, Vorsitzender des Tokioter Organisationskomitees: »Die Idee von Herrn Rubens-Alcais ist geblieben: Wir wollen die Gesellschaft verändern!« Die Spiele verfolgten deshalb drei Leitideen: Durch Sport sollen Menschen zusammengebracht werden. Durch das Event soll zumindest Tokio fit für die Zukunft gemacht werden. Und dadurch soll eine Gesellschaft entstehen, in der alle Personen aufblühen können. Die Spiele sind also viel mehr als nur eine Gelegenheit, nach den unglücklichen Olympischen Spielen noch einmal der Mittelpunkt des Weltsports zu sein. Die für 2020 geplanten Sommerspiele fanden wegen der Corona-Pandemie ein Jahr später statt – ohne Publikum.

Nach den Leichtathletik-Weltmeisterschaften in diesem Sommer nun also das Multisport-Event Deaflympics, das in Tokio noch weit über den Sport hinaus wirken soll. Die japanische Bevölkerung altert in hohem Tempo, heute ist rund jede dritte Person 65 Jahre oder älter. Und da die Wahrscheinlichkeit von Schwerhörigkeit im Alter zunimmt, muss sich ganz Japan fragen, auf welche Weise es eine Infrastruktur schaffen kann, die möglichst allen Personen gerecht wird. »Bisher sind viele Warnsignale oder Kommunikationswege eher auditiv organisiert gewesen«, bestätigt OK-Chef Kurano. Wer etwa eine Rolltreppe benutzt, hört immerzu Stimmen, die einen warnen, zu schnell zu gehen. Hinweise aber für diejenigen, die nicht gut hören, sind selten.

Barrierefreiheit hilft allen

Die Tokioter Metropolregierung hat im Vorlauf der Deaflympics mit mehreren Ideen experimentiert. So eröffnete im Jahr 2023 zeitweise das Miru Café, wo gehörlose Personen die Besuchenden bedienten und Bestellungen über einen Bildschirm annahmen, der das Gesagte verstand und in Textform übersetzte. Schnell stellte sich heraus, dass die Maßnahme, die gehörlose Personen in den Arbeitsmarkt integrieren sollte, auch Personen half, die kein Japanisch können. Barrierefreiheit hilft allen.

Ein paar bemerkenswerte Neuerungen haben sich zuletzt schon durchgesetzt: »Das Unpraktischste war für mich bisher immer das Telefonieren«, erzählt Yamada. »Das ging praktisch nicht.« Nun aber haben viele Institutionen im ostasiatischen Land begonnen, mit Videotelefonie und Gebärdenübersetzung barrierefrei zu sein. Auch Fernsehsender setzen dies vermehrt ein. Für den Leichtathleten macht diese Art von Teilhabe auch etwas mit seiner Psyche. »Ich bin heute viel selbstbewusster als früher.«

Umfragen haben ergeben, dass vor einigen Monaten knapp 40 Prozent in Japan über das Event Bescheid wussten. »Mit allen möglichen Werbekampagnen sollte dieser Wert allmählich bei 50 Prozent liegen«, hofft Kurano. Als Sieger bei den Deaflympics vor heimischem Publikum wäre Sprinter Yamada dann nicht mehr nur ein selbstbewusster Mann, sondern ein Star.

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