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Trendziel Südkorea: Jetzt kommen die Alten
Erst reisten die BTS-Fans an, nun checken auch die Boomer ein: Südkorea wirbt gezielt um Geschäftsreisende, die aus ihren Trips Mini-Urlaube machen
Muss man hier leise sein? Ein gelegentlich schnaufendes, meistens aber still atmendes Riesenwesen liegt im Erdgeschoss eines edlen Neubaus. So groß ist es, dass es an Fuchur erinnert, den fliegenden Hund aus dem Film »Die unendliche Geschichte« in den 1980er Jahren. Dieser hier aber ist braun-schwarz, nicht weiß. Und er wirkt so echt, dass man ihn streicheln will. Nur die dezenten Absperrbänder um den an die zehn Meter langen Kunsthund halten die Leute davon ab. So posieren sie ringsherum für Selfies.
Was das alles soll? Eine Erklärung gibt es nicht. Zumal hier eigentlich Parfüm verkauft wird. Die Düfte, einige mit Zitrusnote, andere eher erdig, werden hinterm Riesenhund zur vermeintlichen Nebensache. Doch sobald die Leute die Essenzen entdeckt haben, wollen sie plötzlich hin, sprühen sich Proben aufs Handgelenk. Einige geben viel Geld für ein Fläschchen. Etwas Ähnliches geschieht ein Stockwerk höher, wo Roboterskulpturen den Raum prägen, in Wahrheit aber Sonnenbrillen für Hunderte Euro angeboten werden.
Angesichts diverser Trends, die seit Jahren aus Korea auf die Welt schwappen, ahnt man: Es ist wohl die neue Art des Konsums, die von diesem Neubau namens »Haus Nowhere« ausgeht. Im Seouler Viertel Seongsu, das mal von Fabriken und schlechter Luft geprägt war, wimmelt es heute vor Hipstergeschäften, bei denen man sich erst mal fragt: Was passiert hier eigentlich? Vor allem jüngere Menschen verstehen es sofort. Denn sie sind es, die schon seit Jahren aus aller Welt nach Seongsu strömen.
An einem späten Nachmittag im November schickt die Sonne die letzten Strahlen des Tages auf Seoul. An renovierten Backsteinbauten springen bunte Leuchtröhren an: Überall Third-Wave-Cafés – Kaffeehäuser, die sich auf hochwertigen, sortenreinen Kaffee, Transparenz in der gesamten Lieferkette und handwerkliche Zubereitungsmethoden fokussiert haben. Hier und da Foto-Booths: mobile Fotostationen, bei denen sich Gäste auf Events selbst fotografieren und die Bilder meist direkt ausdrucken können. Dazwischen Geschäfte für Kuscheltiere, Socken oder Kosmetik, aus denen K-Popsound schallt. Der Duft süßer Pfannkuchen oder würziger Reiskuchen wabert durch die Gassen. Am Feierabend ist die Straße so voll, als wäre gerade Festival. Aber das ist hier immer so.
Das Magazin »Time Out« hat den Stadtteil Seongsu 2024 zum viertcoolsten Viertel der Welt gekürt, es ist längst kein Geheimtipp mehr. Wie ganz Südkorea. Jahrelang blieb das ostasiatische Land in der öffentlichen Wahrnehmung im Schatten des viel größeren China und des kulturell noch bekannteren Japan. In den letzten Jahren aber ist etwas Bemerkenswertes passiert: Angetrieben durch »Hallyu« – was sich mit »Koreanische Welle« übersetzt und die Beliebtheit von K-Pop, K-Drama und weiteren K’s beschreibt – boomt der Tourismus.
Seongsu ist längst kein Geheimtipp mehr.
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Aber während es in den letzten Jahren noch fast nur junge Menschen waren, die unbedingt die Heimat von Popgruppen wie BTS und Blackpink sehen mussten, will es nun auch deren Elterngeneration wissen. Selbst im In-Viertel Seongsu – auch wenn sich hier nicht jedem der Zweck aller Geschäfte erschließen mag – tummeln sich jetzt die Boomer. Selfies posten hier zwar nur die Millennials. Aber die Älteren staunen umso mehr – etwa über Riesenhunde und vermeintlich en passant verkauftes Parfüm.
Mehr als 16 Millionen Menschen sind 2024 aus dem Ausland nach Südkorea gereist, fast 50 Prozent mehr als noch im Vorjahr. Dass es zusehends auch nicht mehr ganz so junge Menschen ins Land zieht, hat aber nicht nur mit den Schwärmereien von deren Kindern zu tun. Es steckt auch Strategie dahinter. Unter dem Banner »Bleisure« – eine Wortschöpfung aus Business und Pleasure, also Geschäft und Vergnügen – fördert der Staat seit Kurzem gezielt das Kombinieren von Geschäfts- und Urlaubsreisen.
Wer etwa aus beruflichen Gründen im Rahmen einer Konferenz oder ähnlichem nach Südkorea reist, kann vom Staat ein bezuschusstes Kulturprogramm nutzen. Das kann ein Wochenende in einem buddhistischen Tempel sein, ein Besuch in einem Freizeitpark, freier Eintritt in diverse Museen oder – insbesondere – Konsumgutscheine. Schließlich ist das in größeren Städten immerzu blinkende und lärmende Südkorea nicht nur ein kultureller Trendsetter, sondern auch ein kapitalistischer Extremfall.
In Seongsu führt etwa Olive Young einen seiner Flagshipstores: Was in Europa kaum bekannt ist, nutzt hier jedes Kind. Diese mehrstöckige Mischung aus Drogeriemarkt, Parfümerie und Wellnesstempel verkauft die angeblich besten Hautcremes für Frauen, dezente Augenbrauenstifte für Männer und alles Weitere, was Menschen zum Schönsein wollen könnten. »Bleisure«-Reisende erhalten Olive-Young-Gutscheine – und finden sich dann in einem Edelstahltempel wieder, der auch eine Berliner Nobeldisco sein könnte.
Wer das alles nicht mehr aushält, hat es aber auch im gentrifizierten Seongsu nie weit, um Relikte aus dem alten Seoul zu entdecken, als Südkorea noch kein Industriestaat mit Coolnessfaktor war. In einer Nebenstraße des warm leuchtenden Ex-Fabrikviertels hat sich eine längere Schlange vor einem Stand aufgereiht. Hier sind kaum Touris, sondern Menschen bei einem Snack nach der Arbeit: Tteokbokki, in scharfer Chillisauce geschmorte Reis- und Fischkuchen, die es zuletzt in den Romantitel eines Weltbestsellers schafften: »Ich will sterben, aber Tteokbokki essen will ich auch«, der Booktok-Erfolg von Autorin Baek Se-hee.
Wer Durst hat, erhält zm Reiskuchen kein Wasser mit Zitronennote und Eiswürfeln, sondern einen kleinen Becher Fischsud gereicht. Um die Kochplatte herum tummeln sich die Kunden, die selbstverständlich bar gezahlt haben, zupfen sich Servietten aus einem Plastikspender, schlürfen, kauen fast wortlos ihre Tteokbokki. Cool findet das hier noch kaum jemand, Voucher für diese Stände werden auch nicht verteilt. Noch nicht. Aber wie bei allem, was dieser Tage aus Korea kommt: Bald werden es wohl alle wollen.
Die Recherche zu diesem Text wurde unterstützt von der südkoreanischen Agentur Kotra, die dem Wirtschaftsministerium untersteht.
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