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Nicaragua: Andersdenkende verlieren Staatsbürgerschaft
Der Jurist Jan-Michael Simon über die Menschenrechtslage in Nicaragua
Sie haben den Bericht der Expertengruppe zur nicaraguanischen Menschenrechtslage in der UN-Generalversammlung vorgestellt. Im Mittelpunkt standen diesmal die zahlreichen gewaltsam verschwundenen Menschen in Nicaragua, richtig?
Ja und nein. Wir haben auch bei früheren Berichten bereits auf das Schicksal von gewaltsam Verschwundenen aufmerksam gemacht, nur haben wir diesmal viele Fälle en détail nachgezeichnet. Derzeit haben wir 74 Fälle genau dokumentiert. Von diesen 74 Fällen sind 27 nicht aufgeklärt – diese Personen sind nach wie vor verschwunden. Von den 27 sind wiederum 13 zwischen elf und 24 Monaten verschwunden. Daraufhin haben wir Daniel Ortega direkt angeschrieben, nachgefragt, wo sich diese 13 Personen befinden und in zwei Fällen von Personen, die mittlerweile als tot gelten, nach der Todesursache gefragt.
Jan-Michael Simon (58) ist Jurist und Vorsitzender der UN-Expertengruppe zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen in Nicaragua, die sowohl ermittelt als auch regelmäßig berichtet. Der Strafrechtler und Senior Researcher arbeitet in Freiburg am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg.
Gab es eine Antwort von Daniel Ortega?
Nein, aber am 7. November wurden vier politische Gefangene freigelassen. Darunter der Journalist Leo Catalino Cárcamo, der Anwalt Julio Antonio Quintana Carvaja, ein ehemaliger Armeeoffizier und eine vierte Person. Wir wissen natürlich nicht, ob das mit unserem Schreiben zusammenhängt, aber wir wissen, dass der Gesundheitszustand von mindestens einer Person extrem schlecht ist.
Sie und Ihre beiden Kollegen, der Ungar Reed Brody und Ariela Peralta aus Uruguay, plädieren für ein konkretes Vorgehen gegen die Regierung von Daniel Ortega und seiner Frau Rosario Murillo – unter anderem mit einer Klage gegen Nicaragua vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Welchen Effekt könnte das haben?
Die Expertengruppe hat eine lange Liste von Empfehlungen vorgelegt und die Klage vor dem Internationalen Gerichtshof in den Den Haag ist eine davon, die es aber bereits seit Beginn unserer Arbeit im Jahr 2022 gibt. Hintergrund ist, dass Nicaragua zwischen Februar 2023 und September 2024 mindestens 452 Menschen die Staatsbürgerschaft entzogen hat und damit gegen die UN-Konvention zur Verringerung der Staatenlosigkeit von 1961 verstößt.
Gibt es in der Region andere Länder, die so systematisch politisch Oppositionellen und Andersdenkenden die Staatsbürgerschaft entzogen haben?
Nein, in Mittel- und Lateinamerika gibt es in dieser Dimension keinen vergleichbaren Fall. Außerhalb der Region gibt es mit der Sowjetunion unter Stalin und Nazi-Deutschland historische Vorbilder.
In Nicaragua haben Daniel Ortega und Rosario Murillo alles unter totaler Kontrolle. Warum sitzt das Duo so fest im Sattel – haben die Sanktionen keinen Effekt?
Es handelt sich um ein Bündel von Maßnahmen, zu denen auch persönliche Sanktionen gegen Repräsentanten des Regimes zählen. Von Nicaragua beziehungsweise von dessen Delegation in New York wird das gern mit der kubanischen Blockade, also dem US-Embargo, verglichen. Das ist fernab der Realität, was ich in der UN-Generalversammlung auch deutlich gemacht habe. Wir haben im April eine Liste der Hauptverantwortlichen des Regimes in Nicaragua veröffentlicht, die aus unserer Perspektive sanktioniert werden sollten. Das ist nur partiell geschehen. Tatsache ist auch, dass Verantwortliche innerhalb des Landes straflos bleiben, weil die Justiz unter totaler Kontrolle der Exekutive steht. Unstrittig ist, dass die bisher getroffenen Maßnahmen nicht ausreichen. Auch können die Sanktionen nur außerhalb des nicaraguanischen Territoriums Wirkung entfalten.
Gab oder gibt es personelle Reaktionen?
Ja, so zum Beispiel gibt es nun zwei Außenminister: einer der nur noch in Zentralamerika, in eng befreundete Länder wie Russland, Kuba oder Weißrussland oder in die Golfstaaten reist und ansonsten zuhause bleibt: Valdrack Jaentschke. Gegen ihn könnten eventuell persönliche Sanktionen erlassen werden, weshalb man ihm Denis Moncada zur Seite gestellt hat, der Reisen nach New York oder Brüssel unternehmen kann.
Die blutige Niederschlagung der Studentenproteste mit mehr als 350 Toten im Frühjahr 2018 ist sieben Jahre her – und Ortega hat das Land trotz der Sanktionen unter totaler Kontrolle, richtig?
Ja, aber ich habe den Eindruck, dass weitere Maßnahmen kommen werden: Denn in den USA stehen die Handelspräferenzen für Nicaragua im Rahmen der Cafta, des Freihandelsabkommens zwischen den Ländern Zentralamerikas, der Dominikanischen Republik und den Vereinigten Staaten, zur Disposition. Basis ist der US-Trade-Act, der im Paragrafen 301 Optionen enthält, Präferenzen zu streichen, wenn Mitglieder Praktiken an den Tag legen, die dem Geist des Abkommens widersprechen. Das Verfahren wurde noch unter US-Präsident Joe Biden initiiert und könnte in den nächsten Wochen dazu führen, dass Nicaragua seine Handelspräferenzen verliert und das wäre mittelfristig ein harter Schlag für die Ökonomie des Landes. Rund 52 Prozent der Exporte gehen in die USA, darunter zum Beispiel Textilien und Tabak.
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