Ein Klassentreffen, das Hoffnung macht

Olivier David über Begegnungen mit Menschen, die er auf seinen Lesungen macht

Linker Literaturbetrieb – Ein Klassentreffen, das Hoffnung macht

Immer wenn ich bei meiner französischen Großmutter zu Besuch war, warnte sie mich – meist kurz vor der Abfahrt – vor den Umstiegen in Tours und Paris. Dort seien viele pick-pockets unterwegs, Taschendiebe.

Diese Warnung diente ihr als Auftakt für ein paar Sätze, die so klischeehaft klingen, dass ich mich kaum traue, sie zu schreiben. Einer der Sätze lautet: »Die Kriminalität in den Städten wird immer schlimmer.« Oft war das eine Art Chiffre, um sich über die Kriminalität von Migrant*innen zu beschweren, ohne dabei allzu rassistisch zu klingen.

Olivier David

Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien von ihm »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen beschreibt. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. 2024 erscheint sein Essayband »Von der namenlosen Menge« im Haymon Verlag. Für »nd« schreibt er in der monatlichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen. Zudem hostet er einen gleichnamigen Podcast über Klasse, Krise und Kultur. Alle Folgen auf dasnd.de/klasse.

Meine Großmutter steht dabei stellvertretend für eine Personengruppe, die wenig Selbstwirksamkeit verspürt und deren Denken mehr nach zu lange laufenden Fernsehern klingt als nach tatsächlich eigenen Erfahrungen. Was nicht heißt, dass sie selbst nie etwas erlebt hat. Nur hatte ich vor allem Kontakt zu ihr, da war ihr Mann schon tot und sie eine etwas immobile Großmutter.

Seit ein paar Jahren fahre ich viel durch die Gegend, um meine Bücher vorzustellen. Man kann sagen, ich erlebe eine Art Gegenprogramm zu dem eingeschränkten Radius meiner Großmutter. Mein Schreiben bringt mich an Orte, die ich vorher nur vom Namen kannte. Noch wichtiger aber ist: Ich komme mit Leuten in Kontakt.

Da ist das über 80-jährige kommunistische Ehepaar in Ostdeutschland, das ich bei einer Lesung kennengelernt habe. Die Lesung in einer kleinen Weberei fand vor einem gerade so eben zweistelligen Publikum statt. Ich war davor schon ein paar Tage am Stück unterwegs und entsprechend gerädert. Und dennoch: In solchen Momenten, in denen ich sehe, wieviele gradlinige, an einer besseren Welt arbeitende Menschen da sind, erlaube ich mir, meinen sonst oft pessimistischen Blick zu öffnen.

Es müssen aber nicht immer Leute sein, die 50 oder 60 Jahre kommunistisch organisiert sind. Überall treffe ich auf meinen Reisen auf Menschen, die mehr sehen als nur ihre unmittelbare Umgebung. Die mehr tun, als man mitbekommt: Basisarbeit, hinter den Kulissen. Nicht unsichtbar, aber auch nicht immer leicht zu erkennen. Eine dieser Personen sagte mir einmal: »Unsere Aufgabe ist es, diese Aufbauarbeit zu leisten, auf deren Rücken irgendwann eine andere Welt entsteht.«

Es ist dieses sporadische Klassentreffen der Aktiven, das mir Hoffnung macht. Da sind Menschen, mit denen man vorher nur in den sozialen Medien geschrieben hat, mit denen man sich verschwören kann gegen den sonst oft gutbürgerlichen Literaturbetrieb. Mit denen ein Wir-Gefühl entsteht in einem sonst auf Differenz und Alleinstellungsmerkmal ausgerichteten Kulturbetrieb.

Ich frage mich nach solchen Momenten, ob ich so sehr auf der Suche nach Selbstwirksamkeit bin, dass ich die Unterlegenheit meiner Klasse ausblende. Dass ich den Fokus auf die sinnstiftenden Begegnungen lege, weil meine Klasse vor allem Niederlagen einfährt. Gleichzeitig braucht es Begegnungen zwischen uns Klassengeschwistern, denn um Banden zu bilden für die Erschaffung einer anderen Welt, müssen wir zuerst Bande bilden.

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