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Neonazis in Berlin: Von der Clique zur Partei
Jugendliche Neonazis stellen in den Berliner Randbezirken eine alltägliche Bedrohung dar. Ihre Strukturen haben sich seit 2024 verändert
Fast schien es so, als seien die »Baseballschlägerjahre« der 90er zurück. Seit dem Frühsommer 2024 tauchten vielerorts in der Bundesrepublik extrem rechte Jugendgruppen auf. Mit Springerstiefeln und Bomberjacke beanspruchten sie offensiv die Straßen.
Am sichtbarsten waren sie bei rechten Protesten gegen Christopher-Street-Day-Paraden. Jede Woche demonstrierten teilweise mehrere Hundert Neonazis gegen die queeren Versammlungen. Die oftmals sehr jungen Teilnehmenden reisten dafür aus der gesamten Bundesrepublik an. Zwar gab es in diesem Jahr weniger Teilnehmende an den rechten Aktionen. Doch die Neonazi-Jugendgruppen sind weiterhin aktiv. Erfahrungen aus den Berliner Randbezirken zeigen, wie sich ihr Auftreten geändert hat und welche neuen Bündnisse am rechten Rand entstehen.
Erst Social Media, dann die Straße
Die aktivsten Gruppen junger Neonazis außerhalb von Parteistrukturen waren in Berlin lange Zeit Deutsche Jugend Voran (DJV) und Jung & Stark (JS). Beide starteten wie viele andere Zusammenschlüsse bundesweit auf Social-Media-Plattformen wie Tiktok und Instagram. In den entstehenden Netzwerken vermischte sich ein völkischer Patriotismus im Sinne der AfD mit offenen Bekenntnissen zum Nationalsozialismus.
Die dabei eingeübte Haltung der Dominanz drängte bald auf die Straßen. In Berlin versuchten die neuen Zusammenschlüsse, den Christopher Street Day (CSD) 2024 zu stören, wobei vier Dutzend Neonazis in einem Polizeikessel am Potsdamer Platz endeten. Dennoch reisten junge Neonazis aus Berlin in den folgenden Wochen zu Protesten gegen CSD-Paraden in den umliegenden Bundesländern. Dabei übernahmen sie zunehmend organisatorische Aufgaben als Ordner*innen oder Einheizer*innen.
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Gerade um DJV entstand so eine Kerngruppe, die sich zusehends professionalisierte und im Oktober 2024 eine erste eigene Versammlung gegen eine feministische Antifa-Demonstration in Marzahn organisierte. Trotz der lediglich 120 Teilnehmenden war das damals die größte Neonazi-Demonstration seit mehreren Jahren in Berlin. Zeitgleich wurde der Kreis um DJV auch außerhalb von Versammlungen aktiv. Personen aus dem Zusammenhang sollen mehrfach an gewalttätigen Angriffen beteiligt gewesen sein. Sie richteten sich vorwiegend gegen Menschen, die von den Neonazis als antifaschistisch gelabelt wurden.
Im Zuge eines steigenden Ermittlungsdrucks kam es zu mehreren Hausdurchsuchungen im Umfeld von DJV. Dabei wurde der Kopf der Gruppe, Julian M., Ende Oktober 2024 in Untersuchungshaft genommen. Seitdem waren weniger öffentliche Aktivitäten von DJV zu beobachten. Im Gegensatz zu Parteijugendorganisationen existierten kaum verbindende Strukturen, die Gruppen funktionierten eher wie Cliquen, die durch gemeinsame Aktivitäten zusammenhielten. So kam es regelmäßig zu persönlichen Zerwürfnissen und zur Gründung neuer Zusammenschlüsse. Neben den Resten der DJV existiert inzwischen eine fast unüberschaubare Vielzahl neonazistischer Jugendgruppen. Allerdings ist selten klar, wie viele Personen sich hinter Namen wie Deutsche Patrioten Voran, Berlin Jugend oder Jägertruppe Berlin-Brandenburg verbergen.
Von Demonstrationen zum Kiez-Alltag
Trotz der Zersplitterung wirkt sich das Phänomen neonazistischer Jugendgruppen auf das Klima in den Kiezen aus – gerade am Ostberliner Rand. Ihre öffentliche Aktivität war Ausdruck und Katalysator für den Aufschwung einer rechten Alltagskultur. Während Aktivitäten wie Demonstrationen zurückgehen, versuchen sich Neonazis anderweitig den öffentlichen Raum anzueignen. So spricht beispielsweise das Lichtenberger Register, das Meldungen über rechte und diskriminierende Vorfälle aufnimmt und dokumentiert, in seinem Halbjahresbericht 2025 von einem Wiedererstarken rechter Jugendkulturen, was sich in einer Verdopplung der erfassten Vorfälle niederschlägt. Einen erheblichen Anteil daran haben rechte Propagandadelikte und politisch motivierte Sachbeschädigungen in Form von Stickern oder Graffiti.
In Marzahn-Hellersdorf ist das Bild ähnlich, wie Paul1 gegenüber »nd« berichtet. Der Mitarbeiter einer Jugendfreizeiteinrichtung möchte zum Schutz der Einrichtung anonym bleiben. Er erzählt, dass die Beschädigungen von Jugendfreizeiteinrichtungen, beispielsweise an Fassaden und Fenstern, zugenommen haben: »Allein in diesem Jahr ist der Sachschaden an unserer Einrichtung auf über 1000 Euro gestiegen.« Vor allem nach rechten Demonstrationen in Berlin und im Umland kämen Jugendliche wutentbrannt zurück nach Hause gefahren. Auf den Versammlungen gebe es Aufkleber, die die Jugendlichen dann rund um die Einrichtungen verklebten.
Bedrohung nicht nur für Jugendliche
Doch die neu entstehende rechte Jugendkultur geht weit über Sticker hinaus. Mari1 ist Sozialpädagog*in in Marzahn-Hellersdorf und möchte ebenfalls aus Sicherheitsgründen anonym bleiben. Mari arbeitet auch mit queeren und geflüchteten Jugendlichen. Viele von ihnen berichten von zunehmenden Anfeindungen in den letzten ein bis zwei Jahren. »Die Jugendlichen schauen sich auf dem Weg zu uns häufig um, ob sie erkannt werden. Wir bieten deshalb an, Jugendliche abzuholen.« Zudem seien neonazistische Jugendliche gezielt zur Werbung in Einrichtungen im Bezirk gegangen. »An andere Jugendliche werden rechtsextreme Aufkleber verteilt. Manche wissen nicht, was das ist, und kleben sie sich an die Kleidung«, sagt Mari zu »nd«.
Für Jugendsozialarbeiter*innen ist die aktuelle Entwicklung eine ständige Herausforderung, die bis in den persönlichen Nahbereich geht. So beschreibt Paul Bedrohungen von Kolleg*innen: »Es wurde gesagt: Wir wissen, wann du Feierabend hast und zur Bahn gehst.« Die Auseinandersetzung mit rechten Jugendlichen nehme daher viel Zeit ein und verlange den Sozialarbeiter*innen viel ab.
In den letzten Jahren ist auch die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) zu einem Stammgast in den Einrichtungen der Jugendarbeit geworden. Mitarbeiterin Janine Budich berät Einrichtungen in Marzahn-Hellersdorf. Sie erzählt »nd«, wie Jugendliche in Marzahn-Hellersdorf gezielt angesprochen und eingeladen wurden, um an rechten Aktivitäten oder Kundgebungen teilzunehmen. Neben der Beratung versucht die MBR, auch die Sozialarbeiter*innen stärker miteinander zu vernetzen. »Aus fast allen Jugendfreizeiteinrichtungen, die sich bei der MBR für eine Beratung melden, wird von einer Zunahme rechtsextremer Äußerungen und rechtsextremer Propaganda berichtet«, sagt Budich. Dazu gehören das Tragen szenetypischer Kleidung, das Abspielen extrem rechter Musik oder die Teilnahme an Kundgebungen.
Annäherung an Parteien
Dabei geht die extrem rechte Mobilisierung von Jugendlichen vielfach mit einer Radikalisierung einher. Während die Schwelle sinkt, sich offen für neonazistische Politik auszusprechen, steigt die Gewaltbereitschaft. Julian M., der Kopf von DJV, wurde wegen der von ihm begangenen Angriffe inzwischen zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Momentan laufen am Landgericht Berlin die Berufungsverfahren gegen Mitglieder von Deutsche Jugend Zuerst aus dem Raum Halle/Leipzig. Sie sollen im Dezember 2024 auf dem Weg zu einer rechten Demonstration SPD-Mitglieder in Lichterfelde angegriffen und verletzt haben. In Brandenburg und Sachsen gibt es Hinweise, dass Personen aus vergleichbaren Jugend-Netzwerken Brandanschläge geplant oder sogar ausgeführt haben sollen.
Insgesamt ermöglichen solche Netzwerke einen Einstieg in extrem rechte Strukturen. Schon im Sommer 2024 versuchte die Kleinpartei Dritter Weg Einzelpersonen aus dem Kreis um DJV einzubinden. Obwohl dies nicht dauerhaft gelang, profitiert die Partei von den Auswirkungen einer neonazistisch ausgerichteten Jugendkultur. Ihre Jugendorganisation Nationalrevolutionäre Jugend wuchs in den vergangenen Jahren in Berlin beständig. An öffentlichen Veranstaltungen beteiligen sich teilweise bis zu zwei Dutzend Jugendliche.
Auch die Partei Die Heimat als Nachfolgeorganisation der NPD buhlt verstärkt um jugendliche Neonazis. Zuerst banden Parteikader Mitglieder von DJV als Securitys beim Sommerfest des extrem rechten Compact-Verlages ein. Zudem veranstaltete Die Heimat mehrfach Neonazi-Konzerte in ihrer Parteizentrale in Köpenick, um jugendliche Rechte anzusprechen.
Ausdruck der Annäherung ist nun der gemeinsame Aufmarsch von Die Heimat und den Resten der DJV am 29. November 2025 im Berliner Ortsteil Mitte. Dennoch ist es fraglich, ob es der geschwächten Partei gelingt, sich auf diesem Wege zu sanieren. Weitaus bedrohlicher als solche Protestveranstaltungen ist die alltägliche Präsenz der Neonazi-Jugendgruppen in den Berliner Kiezen.
1) Namen von der Redaktion geändert
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