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Der strafende Staat
Verpasste Termine als »Todsünde«: Geplante Sanktionen bei der Grundsicherung
Nimmt ein Grundsicherungsempfänger mehrere Termine nicht wahr, soll das nach den Plänen der schwarz-roten Koalition noch schärfer bestraft werden als die Ablehnung eines Jobs, kritisiert der Erwerbslosen- und Sozialhilfeverein Tacheles. Wir stellen einige geplante Verschärfungen vor, die der Referentenentwurf des Arbeitsministeriums vorsieht und die auch bei Rechtswissenschaftlern auf massive Kritik stoßen. Und wir erinnern an eine bereits bestehende gravierende Restriktion, die selten in der öffentlichen Debatte ist.
- Meldepflicht: Verpasst jemand drei Termine, wird der Regelsatz für Essen, Kleidung und Körperpflege gestrichen. Meldet sich die leistungsberechtigte Person innerhalb eines Monats, wird die Kürzung auf 30 Prozent reduziert. Meldet sie sich jedoch nicht, werden auch die Kosten für die Unterkunft nicht mehr übernommen, betont Tacheles. Die Rechtsfolge sei hier gravierender als bei bewusster Arbeitsverweigerung, bei der wenigstens die Wohnkosten weiter gezahlt werden. Nicht wahrgenommene Termine würden so zur »Todsünde«, kritisiert Tacheles.
- Arbeitspflicht: Wenn jemand eine »zumutbare« Arbeit nicht aufnimmt, wird der Regelsatz den Plänen zufolge gestrichen. Bisher endet diese Sanktion, wenn die Möglichkeit der Arbeitsaufnahme nicht mehr besteht. Künftig sollen die Mittel mindestens einen Monat verwehrt werden. Die Leute können die Sanktionsdauer nicht durch ein anderes Verhalten verkürzen. Für Tacheles ist das ein Beispiel, wie der Gedanke der Bestrafung fortentwickelt wird.
- Nachweispflicht: Leistungsberechtigte müssen sich nicht nur um eine Arbeit bemühen, sie sind verpflichtet, dies auch nachzuweisen. »Selbst wenn Leistungsberechtigte sich beworben und nur die rechtzeitige Vorlage des Nachweises verpasst haben, können sie sanktioniert werden«, schreibt Tacheles.
- Wohnkosten: Bisher haben die Jobcenter Wohnkosten für ein Jahr in der tatsächlichen Höhe übernommen, damit sie nicht sofort in Not geraten, wenn ihre Miete höher ist als das, was als angemessen definiert ist. Künftig soll es sofort eine Obergrenze für die Übernahme der Unterkunftskosten geben. Sie dürfen nicht höher sein als eineinhalb Mal so viel wie die »abstrakt als angemessen geltenden Aufwendungen«, heißt es in dem Gesetzentwurf.
- Pflichten der Vermieter: Vermieter müssen künftig den Ämtern detaillierte Auskünfte geben über Miet- und Abrechnungsmodalitäten und »auf Verlangen« Beweismittel vorlegen, fordert der Gesetzesentwurf. Wenn sich diese Pflichten herumsprechen, dürften noch weniger Immobilienbesitzer bereit sein, an Leistungsbezieher zu vermieten, prophezeit Tacheles.
- Keine Bewegungsfreiheit: Schon heute erhalten Bürgergeld-Empfänger nur dann Leistungen, wenn sie erreichbar sind. Das heißt: Sie müssen sich »im näheren Bereich des zuständigen Jobcenters aufhalten und werktäglich dessen Mitteilungen und Aufforderungen zur Kenntnis nehmen können.« So steht es im Gesetz. Woanders hinfahren darf eine Person nur, wenn ein »wichtiger Grund vorliegt«. Das Jobcenter muss die Fahrt genehmigt haben.
In der Praxis sei diese Verpflichtung häufig ein Problem, sagt Tacheles-Vorstand Harald Thomé. Wenn zum Beispiel jemand dem Jobcenter einen Kontoauszug vorlegen sollte und er dies nicht tun konnte, weil er unterwegs war, dann könne die Behörde wegen unerlaubter Abwesenheit Geld zurückfordern.
Die Pflicht, postalisch erreichbar zu sein, sei etwa für Frauen ein Problem, die vor ihrem gewalttätigen Partner geflohen sind, ebenso für wohnungslose Menschen. Es gibt Einrichtungen der Wohlfahrtspflege, die Post für Wohnungslose entgegennehmen, erläutert Thomé. Wenn die Leute die Post an einem Tag nicht abholen, kann die Einrichtung dem wohnungslosen Menschen etwas Zeit gewähren – oder sie meldet das sofort dem Jobcenter. Die Behörde kann dann die Hilfe umgehend kürzen.
Das Sozialgesetzbuch II mit dem Untertitel »Grundsicherung für Arbeitssuchende« ist 2005 eingeführt worden. Die Sozialleistung soll hilfebedürftigen Menschen im erwerbsfähigen Alter und ihren Kindern ein menschenwürdiges Existenzminimum sichern. Gleichzeitig ist das Gesetz darauf ausgerichtet, dass die Menschen möglichst rasch erwerbstätig und nicht mehr hilfebedürftig sein sollen. Ihre offizielle Bezeichnung – Grundsicherung für Arbeitssuchende – sei indes »grob irreführend«, kritisierte der Sozialforscher Matthias Knuth schon 2006.
Denn damals wie heute sind die meisten Grundsicherungs-Empfänger gar nicht arbeitslos. Sie stehen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung, etwa weil sie krank oder alleinerziehend sind oder Angehörige pflegen. Unter den angeblich »Arbeitssuchenden« sind überdies Hunderttausende Kinder sowie bereits Erwerbstätige mit sehr niedrigem Einkommen. Zuletzt waren von den 5,5 Millionen Bürgergeld-Beziehern lediglich 1,7 Millionen nach offizieller Definition arbeitslos.
Ebenso irreführend ist die Bezeichnung »erwerbsfähige« Leistungsberechtigte, von denen im Gesetz ständig die Rede ist. Hierzu werden alle Personen ab 15 Jahren bis zur Regelaltersgrenze gezählt, also auch Schüler*innen, Studierende, Kranke und Alleinerziehende mit kleinen Kindern. Ausgenommen sind lediglich Personen, die dauerhaft erwerbsunfähig sind. Für sie und für Rentner*innen gibt es die »Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung«.
Das SGB II ist seit 2005 immer wieder geändert worden, auch die gängigen Namen änderten sich. Im Kern handelt es sich aber immer um das gleiche Gesetz und die gleiche Sozialleistung.
So wurde die Grundsicherung nach Inkrafttreten des SGB II meist »Hartz IV« oder »Arbeitslosengeld II« genannt. 2023 hat die Ampel-Koalition die Restriktionen entschärft. Die Grundsicherung trägt seither im Gesetz den Zweitnamen »Bürgergeld«. Die schwarz-rote Koalition will nun die Sanktionen wieder verschärfen und die Bezeichnung »Bürgergeld« streichen. Im Referentenentwurf des Arbeitsministeriums heißt das Gesetz weiterhin »Grundsicherung für Arbeitssuchende«. Die CDU spricht von einer »neuen« Grundsicherung. rt
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