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»Auch Terroristen haben Anspruch auf ein Existenzminimum«
Schwarz-Rot will die Sanktionen bei der Grundsicherung verschärfen. Aber ist das eigentlich verfassungsgemäß?
Menschen in Deutschland sollen genug zu essen und ein Dach über dem Kopf haben. Sie sollen sich auch gesellschaftlich engagieren können. Das Bürgergeld soll Bedürftigen dieses menschenwürdige Existenzminimum sichern. Das fordert das Grundgesetz. Dennoch kann die Sozialleistung schon heute beschnitten werden und die schwarz-rote Koalition will die Kürzungsmöglichkeiten noch drastisch ausweiten. Aber darf der Sozialstaat Menschen das Existenzminimum überhaupt verwehren und wenn ja: warum? Wir haben zwei Rechtswissenschaftler gefragt. Ein UN-Menschenrechtsexperte hat die sozialpolitische Entwicklung in Deutschland und anderswo bereits im Sommer analysiert und kommt zu dem Schluss: Mit ihrem sozialpolitischen Kurs schaffen die »Mainstream-Parteien« einen fruchtbaren Boden für den Aufstieg von Rechtsextremen. Ins Hintertreffen gerate das Menschenrecht auf Sozialschutz.
»Grundsätzlich steht jedem in Deutschland ein menschenwürdiges Existenzminimum zu«, erläutert der Verfassungsrechtler Alexander Thiele im Gespräch mit »nd.DieWoche«. Dieser Anspruch wurzelt in Artikel 1 des Grundgesetzes, nach dem die Würde des Menschen unantastbar ist. Gestützt wird er zudem von Artikel 20, der das Sozialstaatsprinzip festschreibt. Beide Grundgesetzartikel sind von der Ewigkeitsgarantie erfasst, dürfen also nicht einmal von einer Zweidrittelmehrheit des Parlaments geändert werden. Insofern ist der Anspruch auf ein menschenwürdiges Dasein fest in der Verfassung verankert.
»Aus Artikel 1 folgt auch, dass das Existenzminimum unverfügbar ist«, erläutert der Professor für Staatstheorie und Öffentliches Recht an der Business & Law School in Berlin. »Auch Terroristen haben Anspruch auf ein Existenzminimum.« Denn die Menschenwürde kann »selbst denjenigen nicht abgesprochen werden, denen schwerste Verfehlungen vorzuwerfen sind«, befindet auch das Bundesverfassungsgericht. Dass das Grundgesetz ebenso wie internationale Menschenrechtsvereinbarungen jedem eine Menschenwürde zusprechen, ist auch eine Konsequenz aus dem deutschen Faschismus, der Juden, Polen, Roma und andere Gruppen entrechtet und entmenschlicht hat.
Die Grundsicherung für Arbeitssuchende, auch Bürgergeld genannt, soll nun sicherstellen, dass Bedürftige das menschenwürdige Existenzminimum erhalten. Doch schon heute kann das Bürgergeld gekürzt werden, etwa wenn jemand einen Termin beim Jobcenter verpasst. Der Regelsatz – also das Geld für Essen, Kleidung und Körperpflege – kann auch komplett gestrichen werden, wenn jemand einen Job nicht annimmt. Doch das reicht der schwarz-roten Koalition nicht, sie plant noch schärfere Sanktionen. Ein Beispiel: Wenn eine Person drei Termine verpasst, soll sie ebenfalls keinen Cent mehr für Lebensmittel, Schuhe und Seife erhalten. Wenn sich die Betroffene nicht innerhalb eines Monats meldet, gilt sie als nicht erreichbar. Dann sollen auch die Wohnkosten nicht mehr gezahlt werden, kritisiert der Erwerbslosen- und Sozialhilfeverein Tacheles unter Verweis auf den Referentenentwurf des Arbeitsministeriums.
Wie soll das zusammenpassen: Einerseits haben alle einen Anspruch auf das Existenzminimum, andererseits kann eben dieses Minimum gekürzt und sogar gestrichen werden?
Der Rechtswissenschaftler Maximilian Pichl nennt die Pläne »evident verfassungswidrig«.
Hier kommt das Bundesverfassungsgesetz ins Spiel. Die Richter haben 2019 geurteilt, dass Sanktionen prinzipiell erlaubt sind, etwa um Mitwirkungspflichten der Leute durchzusetzen, erläutert der Frankfurter Rechtswissenschaftler Maximilian Pichl. Das Urteil ist unter Juristen auf Kritik gestoßen. Auch Pichl sieht hier einen Widerspruch: »Man kann nicht einerseits sagen: Das Existenzminimum ist unantastbar. Und dann dekliniert man im Einzelfall durch, wann es doch beschnitten werden darf.«
Den Staatsrechtler Thiele überzeugt das Urteil ebenfalls nicht. Das Gericht argumentiere mit einer Fiktion: Wenn jemand einen Termin nicht wahrnimmt oder eine Arbeit ablehnt, könne man annehmen, dass die Person nicht bedürftig ist. Also könne das Bürgergeld gekürzt oder sogar gestrichen werden. Mit der Realität muss diese Annahme nichts zu tun haben. Kann sein, dass die Person im Lotto gewonnen hat oder schwarz arbeitet, oft ist sie aber weiterhin hilfebedürftig. Thiele nennt ein Beispiel: »Nehmen wir an, das Kind von einer alleinerziehenden Mutter ist krank geworden. Deshalb hat sie es mehrfach nicht geschafft, den Termin beim Jobcenter abzusagen. Dann kann ihr das Existenzminimum gekürzt werden.« Aus juristischer Sicht findet er das Urteil nicht nachvollziehbar, aus politischer Sicht schon. Es entspreche dem Zeitgeist, nach dem Sozialleistungen vor allem dazu dienen sollen, dass die Menschen erwerbstätig werden.
Was Schwarz-Rot nun plane, gehe noch weiter, betont der Rechts- und Sozialwissenschaftler Pichl. »Der strafende Staat wird als Leitbild etabliert. Wer drei Termine versäumt und sich nicht meldet, gilt als nicht erreichbar und wird mit Totalsanktionen bestraft. Behörden sind nicht angehalten, sich zu bemühen, mit der Person in Kontakt zu kommen und zu prüfen, ob sie vielleicht im Krankenhaus ist oder psychische Probleme hat«, sagt der Rechtsprofessor an der Frankfurt University of Applied Sciences. Er nennt die Pläne »evident verfassungswidrig«.
Die CDU hat den Verfassungsbruch offenbar einkalkuliert. So sagte CDU-Chef Friedrich Merz bereits im Wahlkampf mit Blick auf seine Bürgergeldpläne: »Das wird dann nach Karlsruhe gehen. Mal sehen, was Karlsruhe dazu sagt.«
In ihrer monatelangen Kampagne gegen das Bürgergeld vermittelte die CDU den Eindruck: Wenn Menschen das Existenzminimum gewährt wird, halte man sie davon ab, erwerbstätig zu sein. So sagte Merz bereits im Februar 2024, die Leute könnten sich ausrechnen, dass es besser sei, Bürgergeld zu beziehen als arbeiten zu gehen. Und weiter: »Da lacht die ganze Welt über Deutschland, was wir da machen mit diesem Schwachsinn, der sich Bürgergeld nennt.« Ein Jahr später forderte er im Wahlkampf: »Diejenigen, die nicht arbeiten, aber arbeiten könnten, werden in Zukunft kein Bürgergeld mehr bekommen.« Diese Totalsanktion ist wie erwähnt bereits möglich und soll nun erweitert werden.
Pichl sieht das kritisch: »Einen Anspruch auf Menschenwürde haben nicht nur diejenigen, die einen Job haben.« Es mag Leute geben, die die Grundsicherung ausnutzen, ergänzt Thiele. »Es mag auch ärgerlich sein, wenn jemand beim Jobcenter nicht mitmacht. Aber das ist letztlich die Konsequenz aus Artikel 1: Auch ihre Würde ist unantastbar.«
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Dies zu respektieren, hieße, mit anderen Mitteln Arbeitsmarktpolitik zu betreiben, helfen statt strafen und beispielsweise soziale Arbeit auszubauen, betont Pichl. Wenn man Bedürftige nicht mit großem Aufwand kontrolliert und sanktioniert, würde das »wahnsinnig viele Ressourcen freisetzen«, so Thiele. Ein Beispiel: Vor Einführung des Bürgergelds und vor der Pandemie haben Jobcenter nur wegen Meldeversäumnissen jedes Jahr weit über 600 000 Sanktionen verhängt. Die bestehenden und geplanten Sanktionen beim Bürgergeld treffen dabei ausschließlich armutsbetroffene Menschen. Denn nur sie haben Anspruch auf die Grundsicherung.
In Deutschland haben sich inzwischen zahlreiche Organisationen gegen die schwarz-roten Bürgergeldpläne gewandt, darunter der DGB, AWO, Paritätischer Wohlfahrtsverband und Diakonie. Die Initiative #Gesundheit Unteilbar kritisiert auch, dass das Asylbewerberleistungsgesetz noch niedrigere Regelsätze vorsieht und für Flüchtlinge überdies eine eingeschränkte Gesundheitsversorgung festschreibt. Die Linkspartei und die Grünen lehnen das Vorhaben ebenfalls ab, selbst in der Regierungspartei SPD haben Kritiker*innen ein Mitgliederbegehren dagegen initiiert.
Ein UN-Menschenrechtsexperte hat sich bereits bestehende Regelungen in Deutschland und anderswo angesehen: Olivier De Schutter, UN-Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte, legte im Sommer einen Bericht vor, in dem er sozialpolitische Entwicklungen in verschiedenen Ländern analysiert, darunter in Deutschland, Frankreich und Großbritannien, und zwar vor dem Hintergrund des erstarkten Rechtsextremismus. Ende Oktober stellte er seine Ergebnisse der UN-Generalversammlung vor. Der Jurist beschreibt eine Tendenz zu einem Sozialstaat, der Bedürftige weniger unterstützt und sie stattdessen überwacht, bestraft und als Menschen behandelt, die »korrigiert« werden müssen.
Als ein Beispiel nennt er das Bürgergeld in Deutschland, das Hilfen an Bedingungen knüpft. Der Menschenrechtsexperte erinnert auch daran, dass die Ampel-Regierung bereits im März 2023 wieder die Möglichkeit geschaffen hat, Menschen die Mittel komplett zu streichen, wenn sie eine »zumutbare« Arbeit nicht annehmen. Ähnliche Entwicklungen beschreibt er für Großbritannien und Frankreich.
Bedürftige erlebten den Staat vielerorts nicht als Garant ihrer Rechte, sondern als feindseligen Verhörer, so De Schutter. Gleichzeitig wachse durch Sozialkürzungen und einen »strafenden« Sozialstaat die wirtschaftliche Unsicherheit und damit die Angst vieler Menschen, abzusteigen.
Die »Mainstream-Parteien« erweckten zudem den Eindruck, Sozialschutz sei kein Menschenrecht, sondern eine Wohltätigkeit, die sich Menschen erst »verdienen« müssen und die zuerst der »einheimischen« Bevölkerung zustehe. Gleichzeitig sende die Politik die Botschaft: Sozialleistungen sind knapp – und Staatsbürger stehen mit »Außenstehenden« in direkter Konkurrenz um schrumpfende Mittel, heißt es in De Schutters Redemanuskript für die UN-Vollversammlung im Oktober.
Auf diese Weise »haben Mainstream-Parteien einen fruchtbaren Boden für den Aufstieg von rechtsextremen Populisten geschaffen«, bilanziert der Menschenrechtler. Rechtsextreme könnten in diesem politischen Klima leicht »Habenichtse« gegen Menschen ausspielen, die wenig haben, Ausländer gegen Einheimische und Stigmatisierte wie Migranten und »unwürdige« Arme gegen die »Ingroup«, denen angeblich vorrangig Schutz zusteht.
Der Aufstieg von rechtsextremen populistischen Parteien könne nur gestoppt werden, wenn führende Politiker Sozialschutz als das ernst nehmen, was er ist: »Sozialschutz ist ein Menschenrecht, das in internationalen Verträgen verankert ist und allen Menschen im Hoheitsgebiet eines Staates garantiert werden sollte.« Dabei plädiert der UN-Experte dafür, Sozialleistungen nicht nur eng auf die Ärmsten zu beschränken, sondern insgesamt für die Bevölkerung mehr wirtschaftliche Sicherheit zu schaffen und so Abstiegsängste abzubauen. So könnten Sozialsysteme auch wieder eine breitere Unterstützung erhalten.
Ist das illusorisch? Nicht unbedingt. Die Hochzeit des Neoliberalismus ist vorbei, seine Dominanz bröckelt, betont Thiele. »Jetzt bäumt sich das alte neoliberale Paradigma noch einmal auf und schlägt hart zu«, etwa in Gestalt der geplanten Sozialeinschnitte. Wer oder was künftig dominant wird – autoritäre, rechtsextreme Kräfte oder demokratische Parteien, die auf stärkere staatliche Steuerung und soziale Rechte setzen oder ganz andere Strömungen – ist unklar. So ist Thiele überzeugt: »Die Situation ist offen.«
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