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- Lyrik von Kai Pohl
»Gute Gedichte sind immer noch Zaubersprüche!«
Ein Gespräch mit dem Lyriker Kai Pohl über Kraftfahrer-Jobs, Poetenseminare und Synapsen-Training
Gerade ist Ihr neuer Lyrik-Band »Sterne über Astrachan« erschienen: 100 Gedichte aus vier Jahrzehnten. Das älteste ist von 1988, das jüngste von 2024. Fangen wir von vorne an: Wie ging das los mit der Lyrik?
Die Beschäftigung mit Gedichten, die mir in der Schulzeit durch den Deutschunterricht nachhaltig vergällt worden war, kam über die Musik zustande. Als ich Schule und Lehre hinter mir hatte, fing ich an, mich intensiv mit Liedtexten auseinanderzusetzen. Ost- und Westrock, was man eben so hörte. Und irgendwann begann ich, eigene Texte zu schreiben. Dann begegnete mir die Lyrik von Brigitte Struzyk in ihrem Band »Leben auf der Kippe«, der 1984 im Mitteldeutschen Verlag erschienen war, und da dachte ich: »So was will ich auch machen.« So kam ich von den ersten, ziemlich naiven Songtexten zum Schreiben von Gedichten.
Kai Pohl, geboren 1964, lebt als Dichter und Schriftsteller in Berlin. Mit »Sterne über Astrachan« ist gerade eine Sammlung seiner Gedichte aus den vergangenen 40 Jahren erschienen. Er ist Herausgeber der »Prenzlauer Berg Collection« und Redakteur der Fusionszeitschrift »Abwärts!«. Verschiedene seiner Texte wurden vertont, unter anderem von Herbst in Peking und Alexander Krohn, verschiedene seiner Gedichte wurden in insgesamt sechs Sprachen übersetzt. Website: www.pappelschnee.de
Gab es Ende der 80er Jahre in der DDR konkrete Institutionen oder informelle Zusammenhänge, die Sie beim Dichten begleitet haben? Leute, mit denen Sie sich austauschen konnten?
In der »Jungen Welt« gab es damals die Rubrik »Poetensprechstunde« mit der Möglichkeit, Gedichte einzusenden. Ausgewählte Gedichte wurden kommentiert abgedruckt. Und dann gab es einmal jährlich das Poetenseminar in Schwerin, bei dem ich zweimal war. 1988 war Brigitte Struzyk meine Seminarleiterin, das war tatsächlich ein glücklicher Zufall. Dort lernte ich Leute kennen, mit denen ich noch lange Zeit danach befreundet war.
Dann kamen die wilden 90er. Vielleicht ist das eine zu große Frage, aber was denken Sie: Wie hat sich das Ende der DDR auf Ihr Schreiben ausgewirkt? Damals gründeten sich ja in Ost-Berlin Zeitschriften und Verlage, die den Untergrund-Anspruch der Gegenöffentlichkeit aus DDR-Zeiten bewahren wollten.
Mein erster Job nach der Wende, die ich aus der Ferne erlebte, war Kraftfahrer beim Basisdruck-Verlag. Ich lieh mir Bücher in der Kreuzberger Amerika-Gedenkbibliothek aus und kopierte sie nachts im Verlag, Sachen von Frank O’Hara oder die »Silverscreen«-Anthologie von Rolf Dieter Brinkmann. In der Hinkelsteinpress soz. GmbH publizierte ich meinen ersten Lyrikband, die Broschüre »Ägypten oder die Freiheit des freien Falls«, mit brandneuen Gedichten, darunter ein Langgedicht mit dem Titel »Stunde Null«. Im Fanzine »Rude Look« von Axel Monte und Thomas Stemmer konnte ich Text- und Bildbeiträge unterbringen. Ich veranstaltete Lesungen zusammen mit Freunden vom Poetenseminar und mit Leuten, die ich gerade kennengelernt hatte: eine Performance-Gruppe in Prenzlauer Berg; ein bildender Künstler aus den USA, der in Berlin lebte; eine Autorin aus der Schweiz, die hier zu Besuch war. Besonders die erste Hälfte der 90er war wild, vieles war neu, alle waren irgendwie aufgekratzt, probierten alles Mögliche aus, und so weiter. 1996 fing ich dann noch mal an zu studieren, Kommunikationsdesign. Grafische Entwürfe machte ich immer schon gern und wollte das professioneller hinbekommen. Und endlich, zehn Jahre nach meinem Kraftfahrerjob, am Ende einer selbstverordneten fünfjährigen Schreibpause, knüpfte ich Kontakte zur Redaktion des »Gegner«, natürlich in der Kneipe »Torpedokäfer« im Prenzlauer Berg, die ja quasi die Kantine des Basisdruck-Verlags war.
Basisdruck wurde noch in der DDR als Verlag der linken Opposition gegründet und brachte unter anderem die Literaturzeitschrift »Gegner« heraus. Es ging um radikale Literatur und Kapitalismus-Verweigerung. Wie ist das Verhältnis von Ost- und West-Einflüssen in Ihrer Lyrik? Oder ist diese Unterscheidung eh Quatsch?
Na ja, irgendwie bringt sie nicht viel. Seit ich schreibe, habe ich an Gedichten alles gelesen, was mir in die Finger kam, wenn ich es nur irgendwie faszinierend fand: Block, Jessenin, Pasternak, aber auch Bukowski, Cummings, Ginsberg; Heine, Hölderlin, Hanshan, aber auch Elke Erb, Gisela Kraft, Inge Müller … und so weiter. Gute Gedichte sind eben immer noch Zaubersprüche – nicht so sehr im Sinne von Magie, sondern eher als Kraftspender, Vermittler von Veränderung, Wortfolgen, die etwas bewirken. Wenn sich Gedanken mit Worten neu ordnen, umorientieren und transformieren lassen, dann ist es nachvollziehbar, dass Transformationen auch in der außersymbolischen Realität machbar sind, also beispielsweise die Befreiung von Zwang, Unterdrückung und Depression. Ich weiß noch, wie befreiend es sich anfühlte, als ich zum ersten Mal Texte von Brinkmann las in dem Band »Rolltreppen im August« aus der Weißen Reihe des Verlags Volk und Welt. Das waren unverstellte Sichtweisen und radikale Metaphorik, vor allem aber die Abwehr alles Geschmeidigen, Konformen, Widerspruchsfreien bei der Aneignung des lyrischen Materials.
Ein Brinkmann-Gedicht erkennt man auch sehr schnell als solches.
Ich finde es bewundernswert zu sehen, wie es manchen Autoren gelingt, einen Stil über lange Zeit beizubehalten, stets auf die gleiche Art die Dinge zu betrachten, also eigentlich immer dasselbe zu schreiben. Mich haben unterschiedliche Schreibtechniken inspiriert zu diversen Experimenten, ohne die es mir schnell langweilig geworden wäre – schließlich bin ich selbst mein erster Leser!
Wenn für Sie Gedichte die Vermittler von Veränderung sind, klingt das nach einer politischen Kraft, die Lyrik innewohnt. Was würde für Sie eine linke Literatur ausmachen? Geht’s um Inhalt, Form oder auch um die Formate, in der sie entstehen?
In Zeiten, da Systemapologeten Alternativlosigkeit predigen und korrupte Psychoanimateure dabei sind, den unter anderem vom WWF-Gründer und Märchenonkel Klaus Schwab inspirierten »Great Reset« in die Gehirne zu verpflanzen, kommt es darauf an, das Bewusstsein fit zu halten. Die Beschäftigung mit Poesie, das Lesen und Schreiben von Gedichten ist eine Art von mentaler Gymnastik, ein Training der Synapsen gegen träges Denken. Gedichte sind im besten Fall sozial relevante kritische Reflexionen und freie Gedankenassoziationen: undogmatisch antikapitalistisch – sie dürfen verschönern, aber nicht beschönigen. Kopf und Text von Lüge frei machen, wäre schon mal ein guter Anfang. Dem Ernst der Lage mit Humor begegnen, den »diskreten Charme der Bourgeoisie« verspotten, den Schmerz an der Wurzel packen, die Kraft der Sprache nutzbar machen statt ohnmächtig am Bildschirm kleben. »Es ist Zeit! Dran, dran, weil ihr Tag habt! Lasst euch nicht erschrecken das schwache Fleisch! Und greift der Feind redlich an, so sollt ihr sein Geschwätz nicht fürchten!«, wusste schon Thomas Müntzer. Dieses »Geschwätz« allein mit Worten zu kontern, ist nicht genug, aber ganz ohne Worte wird es nicht gehen. Wir müssen Formate finden, in denen revolutionäre Utopien gegen die »Ohnmacht des Einzelnen«, wie Joseph Weizenbaum sagte, wirksam werden können, wo kollektive Bewusstwerdung die Machtsucht, Habsucht, Prunksucht, Mondsucht der selbsternannten Eliten enttarnt und eliminiert, wie es zum Beispiel Sibylle Berg in ihrem 700-Seiten-Opus »RCE« vorführt.
Nochmal zu Ihrem Band »Sterne über Astrachan«: Gab es ein Gedicht, auf das Sie bei der Zusammenstellung gestoßen sind, dass Sie besonders verblüfft hat?
Es gibt tatsächlich ein Gedicht, von dem bereits feststand, dass es ins Buch soll, und ich habe mich kurzfristig entschlossen, es rauszunehmen. Als Ersatz entschied ich mich für die »Zwickmühle«, einen paradoxen Sechszeiler, worin der Zusammenhang von Arbeit und Konsum schlaglichtartig erhellt wird: »arbeiten gehen / um das auto / zu bezahlen // das man braucht / um zur arbeit / zu kommen«.
Kai Pohl: Sterne über Astrachan. 100 Gedichte. Mit Bildern von Paula Krause, einem Vorwort von Jayne-Anne Igel und einem Nachwort von Brigitte Struzyk. Autumnus-Verlag, 184 S., geb., 18,90 €.
Buchvorstellung: Do, 4.12., 19.30 Uhr im Baiz, Schönhauser Allee 26 A, Berlin
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