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Barrieren statt Besinnlichkeit auf Weihnachtsmärkten
Weihnachtsmärkte werben mit Gemütlichkeit und Tradition, doch für Menschen mit Behinderung zeigen sie Lücken in der Barrierefreiheit
Ein Weihnachtsmarkt drängt sich seit Ende November in die verbliebenen Zwischenräume des Alexanderplatzes. In diesem Jahr ist er von Bauzäunen und Kranspitzen umgeben, ringsherum entstehen zwei neue Hochhäuser. Inmitten der Kulisse wartet Christoph Pisarz. Der 41-Jährige ist seit seiner Geburt querschnittsgelähmt, sitzt im Rollstuhl. Er kennt Hindernisse aus seinem Alltag. Und auch hier, auf einem der zentralen Berliner Weihnachtsmärkte, zeigen sie sich.
Die große Holzpyramide, auf der städtischen Website ist die Imbissbude als besonderes Highlight des Marktes beworben, steht auf einem hölzernen Podest. Das ist für Menschen mit körperlichen Einschränkungen nicht zugänglich. Sie müssen davor bleiben und aus etwa zwei Metern Entfernung mit dem Personal interagieren. »Da kann man relativ schwierig Essen bestellen«, sagt Pisarz. »Auch wenn man sich immer irgendwie bemerkbar machen kann, wird es am Ende mit dem Bezahlen kompliziert.« Die Situation ließe sich momentan nur dadurch lösen, dass das Servicepersonal aus der Pyramide rauskommt und Pisarz vor dem Podest bedient. Der Referent und Dozent stellt fest: »Die Verkäufer sind empathischer geworden. Sie handeln flexibler und schneller als früher.« Woran genau das liegt, wisse er nicht.
Ähnliche Probleme zeigen sich auf dem Weihnachtsmarkt am Schloss Charlottenburg. »Wenn die Verkäuferinnen an den Ständen nichts sagen, weiß ich ja gar nicht, ob da ein Stand ist oder nicht«, sagt Silja Korn. Die gelernte Erzieherin ist seit einem Autounfall im Alter von zwölf Jahren blind. Viele Menschen fühlten sich in einer Interaktion erst bei Blickkontakt angesprochen. »Dann muss man sie mehrfach ansprechen, bis sie reagieren. Und dann ist es ihnen und mir unangenehm.«
Nach der Bestellung hören die Einschränkungen nicht auf. Es geht bei den Stehtischen weiter. »Für Menschen mit Behinderungen oder anderen Einschränkungen sind sie einfach suboptimal«, sagt Pisarz. Für Korn bedeutet das konkret: »Wenn Menschen drumherum stehen, kann es sein, dass ich sie aus Versehen antippe.«
Etwas, das sowohl Pisarz als auch Korn den Aufenthalt auf den Weihnachtsmärkten erleichtern und ihre gesellschaftliche Teilhabe gewährleisten würde, ist ein barrierefreier Zugang. Dazu gehören befahrbare Wege, flache Übergänge, klare Beschilderungen und barrierefreie Toiletten. Von derartigen Elementen profitieren nicht nur Menschen mit Behinderung: Ebenso Ältere, Familien mit Kinderwagen, Schwangere oder Personen mit temporären Einschränkungen sind auf barrierearme Wege und klare strukturierte Flächen angewiesen.
»Ich will ja kein Rammbock sein, aber insbesondere abends, wenn es voll ist, lässt sich das nicht immer vermeiden.«
Christoph Pisarz
Dozent
Wie groß die Lücken bei der Barrierefreiheit auf deutschen Weihnachtsmärkten sind, zeigt auch eine aktuelle Einschätzung des Sozialverbands VdK. Laut Zahlen des Deutschen Schaustellerbundes gelten von den bundesweit rund 3250 Weihnachtsmärkten weniger als ein Prozent als barrierefrei. Das sind etwa 33. Demnach hält die Präsidentin des mitgliederstärksten Sozialverbandes Deutschlands, Verena Bentele, fest: »Inklusion sieht anders aus.«
In Berlin weist die Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderung, Christine Braunert-Rümenapf, nach eigener Aussage seit Jahren auf die fehlende Barrierefreiheit hin. Ihre Handlungsmöglichkeiten bleiben jedoch begrenzt. Sie kann mahnen, beraten und Stellung nehmen. Barrierefreiheit durchsetzen kann sie nicht. Zuständig sind die Bezirke und die Betreiber*innen. Anders als etwa für den Brandschutz gibt es für Barrierefreiheit keine verbindlichen Vorgaben. Für die Bezirke sind temporäre Märkte vor allem administrativer Aufwand ohne direkten Nutzen. Und für die Betreiber*innen zählen hauptsächlich Rendite und Besucher*innenzahlen, nicht inklusive Standards. Für viele Menschen, unter anderem Pisarz und Korn, kann das zur Exklusion führen.
Auch Maßnahmen zur Sicherheit des Weihnachtsmarktpublikums können Hindernisse darstellen. Sobald sich Besucher*innen einem der mehr oder weniger räumlich abgegrenzten Feierorte nähren, stehen vor den Zugängen große graue Sperrblöcke. Ungeachtet ihres Zwecks sieht Pisarz bei ihrer Anordnung Verbesserungsbedarf: »Die Poller sind zum Beispiel am Breitscheidplatz so gestellt, dass Rollstuhlfahrer kaum noch durchkommen oder über krasse Hügel drüber müssen.« Korn findet bei einem Getränk am Stehtisch vor dem Schloss Charlottenburg ähnliche Worte. Sie sagt, dass sie sich um die Poller herum manövrieren muss.
Schon wenige Meter weiter wird deutlich, dass auch Besucher*innen selbst den Bewegungsraum beeinflussen. Während der Besuche Tagen unter der Woche sind die Weihnachtsmärkte vergleichsweise leer. Nur vereinzelt stehen ein paar Menschen zusammen um Tische und Buden. Sie sprechen unterschiedlichste Sprachen, tragen teilweise Rucksäcke und Fotoapparate. Dabei trinken sie etwas oder schauen sich interessiert um. Für Pisarz und Korn beschreibt dieser Zustand den Optimalfall. Wenn Menschen drängten, spontane Schlangen entstünden oder Gruppen abrupt stehen blieben, würde der Raum enger und unvorhersehbarer werden. Pisarz muss deshalb regelmäßig prüfen, wie viel Platz ihm überhaupt bleibt: »Ich will ja kein Rammbock sein, aber insbesondere abends, wenn es voll ist, lässt sich das nicht immer vermeiden.« Für Korn führt Enge derweil schnell zu Orientierungslosigkeit: »Ich habe erlebt, dass Leute sich so geschoben haben, dass man nirgendwo mehr hinkam. Dann kriege ich Panik.«
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Neben den Menschen sind es Kabelbrücken, die einen Besuch erschweren. Quer über die Märkte verlaufen sie, um die Stromversorgung der Stände zu sichern, in aller Uneinheitlichkeit sind sie auf dem Boden zu überwinden. Immer wieder fährt Pisarz schwungvoll über die Hindernisse. Der 41-Jährige spielt Basketball, hat somit Kraft. Trotzdem sagt er: »Es gibt Überbrückungsteile, die flacher sind. Warum legt man die nicht überall aus?« Korn ergänzt einen weiteren Aspekt: »Das ist allgemein ein guter Kontrast.« Zuvor hatte sie nach der Farbe der neben ihr liegenden Kabelbrücke gefragt. Ein klarer farblicher Kontrast kann Menschen mit Sehbehinderung, die nicht komplett erblindet sind, viel helfen. Aber in der Intensität und Auswahl der Farben bestehen auf den Märkten große Unterschiede. Viele der Kabelbrücken haben an Farbe verloren oder sind einfach nur schwarz.
Am frühen Abend erreicht Pisarz den Weihnachtsmarkt am Potsdamer Platz, die letzte Station seiner Runde. Er steuert auf einen geschmückten Weihnachtszug für Kinder zu. Normalerweise würde dieser im Kreis fahren, nun steht er still. Pisarz sagt: »Wenn ich als Vater mit Kind hier wäre, müsste ich gucken, wie das in diese Bahn reinkommt.« Wieder ist es eine Erhöhung, dieses Mal in Form einer Stufe, die ein barrierefreies Handeln verhindert. »Das Kind müsste dann irgendwie alleine zurechtkommen.« Ein barrierefreier Zugang ist nicht gegeben, Eltern mit Behinderung müssen improvisieren, auch pädagogisch.
Trotz dieser Vielzahl an Hindernissen gibt es laut VdK ebenfalls ermutigende Entwicklungen. Immer mehr Weihnachtsmärkte in Deutschland führten sogenannte stille Stunden ein, in denen das Marktgeschehen bewusst ruhiger gestaltet wird. Das Angebot richtet sich an Menschen mit erhöhter Geräusch- oder Reizsensibilität. Dazu zählen neurodivergente Personen, also solche, die ADHS oder Autismus haben, ebenso wie Menschen mit Angststörungen oder Familien mit kleinen Kindern. Diese Initiativen zeigen, dass Rücksichtnahme und Teilhabe bereits ohne größere bauliche Veränderungen möglich sind.
In Berlin gibt es ebenso positive Ansätze: In diesem Jahr bietet der Bezirk Spandau erstmals ein Begleitangebot auf dem Weihnachtsmarkt in der Spandauer Altstadt an. In Kooperation mit dem Mobilitätshilfedienst Spandau können Besucher*innen mit Mobilitäts- oder Seheinschränkungen dort eine persönliche Unterstützung buchen. Das Modell demonstriert, wie niedrigschwellige Maßnahmen den Zugang verbessern und gesellschaftliche Teilhabe praktisch ermöglichen.
»Schließlich sollten Weihnachtsmärkte Orte eines gemeinsamen Erlebens sein, nicht Orte der Ausgrenzung – damit aus weihnachtlicher Stimmung echte gesellschaftliche Teilhabe wird«, sagt die VdK-Präsidentin. Die Entwicklungen in Spandau und die stillen Stunden auf anderen Märkten machen deutlich, dass Inklusion möglich ist, wenn entsprechende Angebote umgesetzt würden.
Damit dies sowohl in Berlin als auch in der gesamten Bundesrepublik flächendeckend Realität wird, müssten Barrieren systematisch abgebaut, verbindliche Standards eingeführt und bestehende Strukturen konsequent genutzt werden.
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