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Geschlecht als Produktion von Produktion
Über die Möglichkeit, Dekonstruktion und Materialismus in der feministischen Theorie zu verbinden
On ne naît pas femme, on le devient.» Dieser Satz Simone de Beauvoirs aus dem Buch «Le deuxième sexe» (dt. «Das andere Geschlecht») von 1949 hat wie wenig andere die Entwicklung der Frauen- und Geschlechterforschung weltweit geprägt. 1951 wurde er übersetzt mit: «Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.» Beauvoirs These, dass das Geschlecht nicht angeboren ist, hat an Aktualität nichts eingebüßt. Allerdings herrscht damals wie heute Uneinigkeit über die Frage des Wie: Wie «wird man» zu einer Frau, wenn «man» nicht als Frau geboren wird?
Wie wird Geschlecht produziert?
Schon 1992 gab es anlässlich der Neuauflage von Beauvoirs «Das andere Geschlecht» über diese Frage Streit. Statt «man wird es» oder «sondern wird es» prägte die Romanistin Ingrid Galster die Formulierung «man wird dazu gemacht». Dies betont den herstellenden und produzierenden Charakter der geschlechtlichen Subjektwerdung. Die Frage des Machens kann noch enger gefasst werden, da sie stets auch eine Formfrage mit sich bringt: Wenn man zu einem Geschlecht gemacht wird, inwiefern ist das Frau- oder Mannsein dann durch spezifische Produktionsbedingungen, durch spezifische Werkzeuge und Formen bestimmt? Und wer produziert eigentlich mit diesen Mitteln? Wie genau verläuft das Machen des Geschlechts und welche Formen und Verfahren nimmt das Machen an? Und nicht zuletzt die Frage: Was heißt all das für die körperliche Materie des Geschlechts?
Galster rechtfertigte ihre Übersetzung mit dem Fortlauf des Textes, in dem Beauvoir davon spricht, dass es «kein biologisches, psychisches, ökonomisches Schicksal» sei, das «die Gestalt, die das Menschenweibchen in der Gesellschaft annimmt, [bestimmt]», sondern «vielmehr bringt die Zivilisation das Produkt […] hervor, das als weiblich bezeichnet wird». Beauvoir selbst hebe also darauf ab, dass das, was wir unter einer Frau oder einem Mann verstehen, ein Produkt gesellschaftlichen Handelns ist. Galster spezifiziert dies hinsichtlich einer bestimmten Weise, wie die «Zivilisation» Geschlecht hervorbringt: durch eine tätige Praxis des Machens.
Aus «Beauvoirs These, dass man nicht als Frau zur Welt kommt, sondern dazu wird», schlussfolgert auch die Philosophin Judith Butler, «dass die Kategorie Frau selbst ein prozessualer Begriff, ein Werden und Konstruieren ist, von dem man nie rechtmäßig sagen kann, dass es gerade beginnt oder zu Ende geht». Das Wesen des Geschlechts ist eine notwendig auf Wiederholung angewiesene Produktion: Butler schließt sich Beauvoir darin an, dass es niemals möglich sei, eine Frau zu werden, wenn dieser Prozess des Werdens und Hinzufügens immer schon auf ein Ziel ausgerichtet sei. Zugespitzt mit Gilles Deleuze und Félix Guattari lässt sich Frausein also nur prozessual, als unendliches Werden bestimmen. Das Geschlecht ist in diesem Sinne die ursprungslose, wiederholende «Produktion von Produktion».
Die These, dass Geschlecht keine natürliche Ontologie besitzt, die unbearbeitet als passive Materie gegeben oder vorhanden ist, ist dabei nicht neu, aber deswegen nicht minder akut. Im Gegenteil: Derzeit in Feuilletons, Politik und Universitäten hitzig geführte Debatten über Identitätspolitik, Gendern, kulturelle Aneignung, Transgender und so weiter zeigen, dass die Frauen- oder Geschlechterfrage nicht geklärt ist, sondern vielmehr wieder und vermehrt zur Debatte steht. Daher muss genau dort angesetzt werden, wo sich Lösungen für die immer noch virulente Geschlechterfrage vermuten lassen: bei der Produktion, der Herstellung, dem Machen und Erarbeiten von Geschlecht. Denn sollte sich Butlers These der Konstruiertheit des Geschlechts bestätigen, dann müssen zuvorderst die Formen und Praxen eben dieser Konstruktion befragt werden.
Queer oder Marx?
Feministische Diskurse in Deutschland teilen sich sowohl hinsichtlich der wissenschaftlichen Forschung als auch mit Blick auf die politische Praxis zurzeit weitestgehend in zwei Lager auf: Auf der einen Seite wird mit Rückgriff auf differenzfeministische Positionen eines universellen Wir der Frauen ein materialistischer oder zuweilen auch frauenpolitischer Feminismus für sich in Anspruch genommen. Auf der anderen Seite steht ein intersektionaler Feminismus, eine Queer- oder Diversity-Politik mit einem Fokus auf Identitätspolitik.
Erstere Position wirft der zweiten vor, das geschlechtliche und körperliche Subjekt gänzlich in poststrukturalistischer Sprachvermittlung der Diskurse ohne Material und Geschichte aufzulösen. Ein Vorwurf, den es bereits in den 90er Jahren Poststrukturalist*innen wie Judith Butler gegenüber gab. Jener Vorwurf und damit einhergehend eine tiefe Spaltung der feministischen Bewegung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht aufgehoben, sondern verschärft. Letztere Position (Intersektionalität und Queer) wirft der ersten (Differenzfeminismus und Frauenpolitik) vor, wiederum eine problematische Essenzialisierung der Frau zu betreiben.
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Besonders in der politischen Praxis grenzen sich beide Ansätze voneinander ab, obwohl sie analytisch betrachtet einen wesentlichen Knackpunkt teilen: ein fehlendes Verständnis von Geschichte und ihrer Gemachtheit. Wenngleich queere, intersektionale und insbesondere postkoloniale Studien einen spezifischen Geschichtsbezug haben, funktioniert dieser jedoch selten historisch-materialistisch im Sinne einer das Allgemeine und Universelle adressierenden Gesellschaftskritik. Stattdessen wird das Besondere und jeweils Partikulare der geschichtlichen und subjektiven Position betont und sichtbar gemacht. Sich heutzutage als materialistisch verstehende Ansätze wie beispielsweise weite Teile des New Materialism oder die sich als radikal oder materialistische Feminist*innen bezeichnenden Kritiker*innen des Queerfeminismus tendieren gleichermaßen zur Missachtung historisch-materialistischer Perspektiven auf Gesellschaft. So fehlt in den neo-materialistischen Konzepten von beispielsweise Karen Barads «Agentiellem Realismus» oder Jane Bennetts «Vitalem Materialismus» die Vermittlung des Materials mit seiner jeweils historisch spezifischen Herstellung, der menschlichen Arbeit und der damit verbundenen jeweils besonderen Form der Produktion.
Verknappend zusammengefasst heißt das, dass die einen zwar die diskursive Produziertheit des Geschlechts denken können, dabei aber den Zugriff auf dessen spezifische, das heißt sinnlich konkrete Materialität und ihre Situiertheit im gesellschaftlichen Allgemeinen verlieren. Die anderen fokussieren zwar die Materialität, verlieren dabei aber jeden Sinn für die Gemachtheit und Produziertheit der Materie, für Performanzen, Anrufungen und Herstellungsverfahren und laufen daher Gefahr, zu essenzialisieren. Mit der These, dass Geschlecht in und durch Arbeit hergestellt wird, möchte ich genau in diesen Zwischenraum intervenieren.
Für die Vermittlung dieser beiden Pole Queerfeminismus, Dekonstruktion, Poststrukturalismus «vs.» Materialismus, Marxismus, Geschichte schlage ich ein Verfahren vor, das ich Queeren Materialismus nenne. Klar ist, dass Vermittlung hier nicht bedeutet, die Widersprüche und Differenzen zwischen Queerfeminismus und Materialismus zu negieren oder aufzuheben. Ich will aber betonen, dass bestimmte Differenzen beider Lager politisch bedingt und nicht theoretisch begründet sind.
Primat der Form
Warum dies nun vermittels Literatur und Popkultur beleuchten? Warum reicht eine soziologische oder gesellschaftstheoretische Analyse an dieser Stelle nicht aus oder wäre darüber hinaus nicht auch besser für die Analyse dieses Gegenstandes geeignet? Die Frage, wie Geschlecht gemacht wird, impliziert notwendig die Frage nach der Form. Oder anders gesagt: Fragt man nach dem Wie der Geschlechterproduktion, ist ein genauer Blick auf die jeweils bestimmte Art und Weise des Machens und Produzierens nötig. Zu fragen, wie Geschlecht literarisch gemacht wird, heißt also, nach den Mitteln, Akteur*innen und Formen der Produktion zu fragen. Auf welche Weise, mit welchen literarischen, sprachlichen und ästhetischen Werkzeugen wird Geschlecht produziert?
Ich folge zur Beantwortung dieser Fragen dem von Georg Lukács formulierten Primat der Form: «Die Form ist das wahre Soziale in der Literatur.» Rhetorische, narratorische und stilistische Mittel und Strategien, die Geschlecht textuell herstellen, verstehe ich dabei im Anschluss an Franco Moretti als Werkzeuge der sprachlichen Produktion. Ich folge ihm weiter darin, dass «sie [die Erzählung] ausschließlich durch das Medium der literarischen Form [spricht]». Was das Geschlecht einer Erzählung ist, wie ihr Körper sich dazu verhält, wer spricht oder was die Sexualität einer Figur bedeutet, lässt sich vermittels der spezifisch literarischen Form verstehen. Literatur erzählt nicht nur von Geschlecht; sie erzeugt es, indem sie es mit ihren Werkzeugen erarbeitet. Die Werkzeuge ihrer Arbeit sind die literarischen Formen.
Mein darin nun spezifischer Zugriff auf die literarischen Gegenstände ist, dass Literatur wie Arbeit agiert. Damit stellt sie mehr als andere Analyseverfahren von Geschlecht den Prozess der Herstellung aus. Ich begreife literarische Verfahren im Anschluss an Judith Butler also nicht nur als Teil des Produktionsprozesses von Geschlecht, sondern in ihren literarischen Formen selbst genuin produzierend. Mit Blick auf das Wie der Produktion kann eine Analyse von, mit und durch literarische Formen viel stärker als soziologische Analysen herausstellen, wie Bedeutung gemacht wird. Literatur kann, weil ihre Gegenstände hochgradig gemacht und hergestellt sind, Herstellungsprozesse von Materie, Geschlecht und Körpern nachvollziehen. Sie kann so durch ihre Gemachtheit auf Ebene der Form aufzeigen, was sie auf der Ebene des Inhaltes tut.
Es geht also im Kern um die Frage der Materialisierung durch die literarische Form. Die Form, das heißt eine Weise der Produktion, bestimmt in dieser Hinsicht die Semantik der Produktion. Literatur ist gerade deswegen geeignet für eine Analyse der Produktion von Geschlecht, weil sie als explizit gemachte, hergestellte Sprache auf der Ebene der Form selbst ausweist, was sie auf der Ebene des Inhalts präsentiert: dass all ihre Gegenstände – wie sie selbst – hergestellt werden (müssen).
Queerfeministischer Materialismus
Theorien der Zweiten und Dritten Welle des Feminismus ließen die Materialität des Körpers und Geschlechts auf zweierlei Weisen außer Acht: Entweder wurde der weibliche Körper als versklavtes Land, als totale Verdinglichung durch patriarchalen und kolonialen Kapitalismus wahrgenommen, dessen geraubte Ursprünglichkeit zurückerobert werden müsse. Oder aber es wurde über die physische, somatische Materialität des Geschlechts und des Körpers aufgrund der Gefahr (biologischer) Essenzialisierung gar nicht mehr gesprochen. Letztere Strömung, der hinsichtlich der Geschlechteranalyse vielfach Körperlosigkeit vorgeworfen wurde, beschrieb Butler bereits 1996 als «merely cultural», also bloß kulturell.
Butler, der damals selbst Kulturalismus und Körperverlust vorgeworfen wurde, kritisierte in dem gleichlautenden Essay die Vereinseitigung der Debatte über geschlechtliche Materie in zwei Lager, von denen ich sagen würde, dass sie trotz neuer Vermittlungsversuche weiterhin bestehen: poststrukturalistische Kulturtheorie (Linguistik, Ästhetik, Identitätspolitik, Queer-Theorie) auf der einen und Ökonomiekritik (Materialismus, Marxismus, Ideologiekritik) auf der anderen Seite. Butler schloss ihren Essay damals einerseits mit einer Warnung vor einer Spaltung zwischen Marxismus und Queer Theory, die nicht nur eine Schwächung linker, demokratischer Wissenschaft, sondern auch ein Einfallstor neokonservativer bis rechter Theorien sein könnte.
Andererseits schloss Butler den Essay mit einem dringend benötigten Vermittlungsvorschlag, dem ich mich anschließen möchte: «Die Frage ist nicht, ob Sexualpolitik folglich dem Kulturellen oder dem Ökonomischen angehört, sondern wie die Praktiken des sexuellen Austauschs die Unterscheidung zwischen den zwei Sphären zunichtemachen.» Genau aus diesem Grund liegt mein Fokus auf dem Machen des Geschlechts und den von Butler sogenannten Praktiken des sexuellen Verkehrs. Denn hier, in den praktischen Verfahren der Produktion, liegt ein Ausgangspunkt für ein besseres Verständnis von Arbeit und Geschlecht jenseits der benannten dichotomen Lager.
Ansätze, Materialismus und Queer zusammenzudenken, gab es bereits in den 80er Jahren vor allem im dekonstruktiven und materialistischen Feminismus. Aktuelle Bezüge auf eine Fusion queerer und materialistischer Ansätze sind hingegen vor allem in der Literaturwissenschaft rar. Sie finden sich aber teilweise und in den vergangenen Jahren vermehrt in den Sozial- und Politikwissenschaften und in der Philosophie des US-amerikanischen Kontextes sowie stellenweise auch in Europa. Ein Vermittlungsvorschlag, dem ich in meinem Versuch der Verknüpfung beider Ansätze folge, kommt von Thomas Meinecke. 2022 hat er mit einer «Poetik des Nicht-Binären» den Begriff «ozeanisches Schreiben» vorgeschlagen, mit dem er «etwas Fluides» assoziiert, das für ihn «auch mit den aktuellen Diskursen der Gender Studies gut korrespondiert». Er stellte fest, dass gerade im Nachdenken über Gender, Queerness, das Nicht-Binäre und eine damit zusammenhängende Poetik «der Materialismus wieder auf[tritt]». Seiner Beobachtung, «dass der Diskurs über den Körper wieder da ist», schließe ich mich an, genauso wie der Verbindung von Materialismus, Körperlichkeit und Queerness. Wieder vom Körper und der Materie zu sprechen, bedeutet für ihn, weder einen essenzialistischen Rückschritt zu riskieren, noch müssten damit diskurstheoretische Erkenntnisse verworfen werden: «Eine Zeit lang dachte ich, dass es ein Backlash wäre, wieder von den Körpern zu sprechen, wie man sagt: ›Es gab etwas vor der Sprache, weil wir doch die versteinerten Flugechsen haben.‹ Das würde ich immer noch ablehnen. Es gab nichts vor der Sprache, es gibt auch nichts Vordiskursives.»
An den literarischen Gegenständen lässt sich zeigen, dass die literarischen Verfahren der Produktion von Geschlecht und Materie buchstäblich als und wie Arbeit funktionieren. Die bestimmte Weise dieses Herstellungsverfahrens der literarischen Gegenstände ist Arbeit. Dieses Verfahren nenne ich Queerfeministischen Materialismus.
Der Text ist ein bearbeiteter und gekürzter Abdruck aus Franziska Haugs Buch «Arbeit als literarisches Verfahren der Produktion von Geschlecht. Queerer Materialismus bei Thomas Brasch, Gisela Elsner, Elfriede Jelinek, Ronald M. Schernikau und im Pop», das jüngst im Verbrecher-Verlag (496 S., br., 32 €) erschienen ist.
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