Berlin: Berufung in Palästina-Verfahren

Am Landgericht Berlin startet ein Berufungsprozess für propalästinensischen Protest an der Humboldt-Universität

Demonstrant*innen haben im Mai 2024 aus Protest gegen den Gaza-Krieg die Humboldt-Universität in Berlin besetzt.
Demonstrant*innen haben im Mai 2024 aus Protest gegen den Gaza-Krieg die Humboldt-Universität in Berlin besetzt.

Aussage steht am Donnerstag gegen Aussage. Der Mathematik-Student M. sitzt vor dem Landgericht Berlin. Für M. der zweite Gerichtsfall in einem Jahr: Im Sommer 2025 wurde er vom Amtsgericht schuldig gesprochen, einen Polizeibeamten tätlich angegriffen und Widerstand gegen seine Festnahme geleistet zu haben. Auch der vorsätzlichen Körperverletzung wurde er vom Gericht schuldig gesprochen. Das Strafmaß für den nicht vorbestraften Studenten liegt bei einer Geldstrafe von 160 Tagessätzen zu je 25 Euro, also insgesamt 4000 Euro. Dagegen legte M. nun Berufung ein. Mithilfe eines Videos könnte er seine Unschuld beweisen.

Am 22. Mai 2024 besetzten Student*innen das Sozialwissenschaftliche Institut der Humboldt-Universität (HU) und benannten es zeitweise nach dem Geflüchtetencamp Jabalia. Dieses Camp im Gazastreifen wurde in den vergangen zwei Jahren mehrfach vom israelischen Militär bombardiert. Nicht an der Besetzung, sondern an einer Demonstration vor dem HU-Institut beteiligte sich M. am 22. Mai 2024. Er protestierte vor seiner Universität »gegen den Genozid in Gaza und gegen Kriegsverbrechen«, wie er vor Gericht sagt.

Die Berliner Polizei wollte den Protest, an dem sich M. beteiligte, in eine Nebenstraße verlagern. Ein Großteil der etwa 100 Demonstrant*innen kam dieser Aufforderung nicht nach. Darum schoben und drückten die Beamten diese Menschen. Das zeigt auch ein Video, das Gegenstand der Verhandlung ist.

»Ich habe gegen den Genozid in Gaza und gegen Kriegsverbrechen demonstriert.«

HU-Student M.

In dem Video ist zu sehen, wie die Beamten anfangen, die Demonstrant*innen erst leicht und innerhalb von Minuten immer stärker zu schieben. Manche Demonstrant*innen werden an die Mauer eines Gebäudes gequetscht, andere in große Pflanzentöpfe, die auf dem Gehweg stehen. Nach und nach sind immer lautere Schreie zu hören. Zu sehen ist auch, wie ein Beamter dem Studenten M. in den Nacken fasst und ihn drückt. Nicht gut zu erkennen ist, auf welche Art und Weise ihm seine Basecap und seine Brille vom Gesicht geschlagen werden.

Kurz nachdem M. Kopfbedeckung und Brille verloren hat, wird er festgenommen. Ein Polizeibeamter sagt, M. habe ihm zuvor auf die Hände geschlagen und »unvermittelt« mit der Faust ins Gesicht. Außerdem soll M. den Beamten auf dem Visierschutz am Kinn getroffen haben, der aber weder den Dienst abbrechen noch einen Arzt aufsuchen musste, wie er dem Gericht sagt. Dass M. den Beamten geschlagen hätte, ist in der Videosequenz nicht zu erkennen.

M. sagt, er habe überhaupt keinen Polizisten geschlagen. Stattdessen habe er registriert, wie ein*e Demonstrant*in neben ihm geschlagen wurde. Deshalb habe er seine Arme schützend vor diese Person gehalten. Er habe einen Schlag auf seinen Kopf gespürt. Die Gesamtsituation bezeichnet er als »unübersichtlich und laut«.

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Sein Rechtsanwalt Lukas Theune beantragt, einen psychologischen Sachverständigen vorzuladen. Der sollte prüfen, ob die Aussagen von Polizeibeamten im Zeugenstand zuverlässig sind. In dem Antrag bezieht er sich auf eine Studie der Wissenschaftler*innen Kristina Kaminski und Siegfried Spore. Sie haben 96 erfahrene Polizeibeamte interviewt und einen Vergleich zwischen Zivilpersonen und Polizeibeamten als Zeug*innen gemacht. Sie kommen zu dem Schluss, dass Polizeibeamte keine besseren Zeug*innen sind, jedoch mehr auf ihre eigene Aussage vertrauen. »Dies bedeutet, dass Polizisten/-innen sich ihrer Identifizierungsentscheidung zwar sicherer zu sein scheinen als Laien, jedoch mit ihrer Entscheidung nicht entsprechend richtiger liegen«, heißt es in der Studie. Theunes Antrag wird vom Richter abgewiesen.

Die Gruppe »Hands off Student Rights« begleitet den Prozess, wie viele andere Verfahren gegen Student*innen, die wegen ihres palästinasolidarischen Engagements vor Gericht stehen. Das Strafmaß in der ersten Instanz bezeichnen sie als »weit über das Übliche für studentischen Protest« hinausgehend. »Pauschale Kriminalisierungen dienen aus unserer Sicht der Einschüchterung politisch engagierter Studierender«, erklärt Sprecherin Ayten Sabah. »Die Anklage gegen unseren Kommilitonen ist nicht nur juristisch fragwürdig – sie ist politisch motiviert.« Es zeige sich immer wieder – »je mehr Polizeigewalt, desto höher die Tagessätze.«

Eine Fortsetzung im Prozess ist für den 23. Dezember und den 8. Januar angesetzt.

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