Orchestriert und angsteinflößend

Die Kritik von Emran Feroz an der westlichen Doppelmoral

  • Atifa Quazi
  • Lesedauer: 4 Min.
Auch Journalisten wurden immer wieder Opfer israelischer Bombardements in Gaza.
Auch Journalisten wurden immer wieder Opfer israelischer Bombardements in Gaza.

Kurz nach dem von Palästinensern wie friedenswilligen Israelis herbeigesehnten Waffenstillstand hat die israelische Regierung diesen wieder gebrochen und Palästinenser*innen getötet. Die Getöteten waren keine Schlagzeile in den deutschen Medien wert.

Mit genau dieser Heuchelei des Westens rechnet Emran Feroz in seinem neuen Buch erneut ab. Vieles mag Leser*innen seiner früheren Bücher wie »Der längste Krieg: 20 Jahre War on Terror« oder »Vom Westen nichts Neues« vertraut vorkommen, neu aber ist die Linie, die Feroz von den westlichen Antiterrorkriegen nach dem 11. September bis zum heutigen Völkermord in Gaza zieht. Damit setzt er die Doppelmoral der westlichen Medien und Politiker, vor allem in Deutschland, der wir besonders in den letzten zwei Jahren ausgesetzt waren, in einen größeren Kontext.

Feroz, der selbst Kriegsreporter ist, hat jegliche Hoffnung in seinen eigenen Berufsstand verloren. Laut ihm hätten die meisten etablierten Medien in ihrer Gaza-Berichterstattung versagt. Darunter auch jene, die sich als links oder kritisch verstehen. In Kapiteln wie »Toter Journalismus« oder »Die gejagten Journalisten« zeigt er fast chronologisch, wie palästinensische Journalist*innen diffamiert und ihre Tötung von westlichen Medien »orchestriert« wurde. Er nennt Namen, verweist auf Leitartikel und macht deutlich, wie deutsche Medien fragwürdige Quellen aus dem angelsächsischen Raum unkritisch reproduzieren, solange es das eigene Narrativ stützt. Viele von ihnen »benutzen regelmäßig Euphemismen und bedienen sich an den offiziellen Statements der IDF«, der israelischen Verteidigungskräfte Israel Defense Forces.

Über das gezielte Bombardement des Al-Baqa-Cafés, in dem sich palästinensische Journalist*innen aufhielten, durch die israelische Armee herrschte im Land der Dichter und Denker eine »angsteinflößende Stille«. Umso perfider, dass deutsche Journalist*innen sich bemühten, das gezielte »Aushungern der Bevölkerung in Gaza zu leugnen«. Weiter zeigt Feroz auf, wie »isoliert und kleinkariert« die deutsche Blase in ihrem Diskurs ist. Nicht nur, aber besonders, wenn es um den Begriff des Genozids geht. Die deutsche Debatte sei inzwischen derart verroht, dass Kinder aus Gaza als »potenzielle Sicherheitsrisiken« betrachtet würden.

Diese Entmenschlichung überrascht Emran nicht, der jahrelang als Kriegsreporter aus Afghanistan berichtet hat. Die Reaktionen vieler Medien auf die Gewalt in Gaza erinnern ihn an deren Komplizenschaft im »War on Terror« – der in Afghanistan und im Irak begann: »Der 7. Oktober 2023 bedeutet eine Zäsur. Der Westen verwendet die Terroranschläge der Hamas als neues 9/11, womit sich … jede Auslöschung und ein Genozid rechtfertigen lassen.« Der »War on Terror« ist für Feroz der Vorläufer des Genozids in Gaza.

Als Gründer der virtuellen Gedenkstätte »Drone Memorial« schildert er exemplarisch und eindringlich das so oft vergessene Leid, insbesondere der Menschen in Afghanistan. So berichtet er etwa vom Schicksal des afghanischen Mädchens Aisha, das 2013 durch eine US-amerikanische Reaper-Drohne nicht nur ihre Familie, sondern auch ihr Gesicht verlor. Feroz zeigt auf, wie rassistische Doppelstandards seit jeher die westliche Berichterstattung prägen. Während Kriegsopfer in der Ukraine als »zivilisierte Europäer« betrauert werden, gelten Tote in Kabul oder Gaza als Kollateralschaden oder Terroristen. Auch militante sogenannte Islamkritiker wie Abdel-Samad verschont Feroz nicht. Letzterer habe sich seit Gaza dafür geschämt, westliche Werte an die islamische Welt vermitteln zu wollen. Für Feroz sei der Schaden jedoch bereits angerichtet, schließlich habe Samad »die Kriege der westlichen Welt in Nahost oder Afghanistan relativiert und gerechtfertigt« und seine Karriere darauf aufgebaut.

Das Buch ist im Kern eine scharfe Anklage gegen die westliche Doppelmoral, Feroz kritisiert im Kapitel »Die blinden Flecken der Anderen« aber auch die Ignoranz innerhalb nicht-westlicher Reihen. Er verweist auf die katastrophale Lage im Sudan, auf die Massenabschiebungen afghanischer Geflüchteter aus Pakistan und Iran und die bittere Ironie, dass dort »in den letzten zwei Jahren zahlreiche propalästinensische Demonstrationen stattfanden, während gleichzeitig auf denselben Straßen afghanische Geflüchtete gejagt wurden«. Das Kapitel wirkt stellenweise hastig hinzugefügt, vermutlich um dieser Kritik zuvorzukommen.

Des Autors Empörung und dessen langjähriger Frust über die deutsche Gesellschaft sind spürbar, dennoch bleibt seine Analyse nüchtern, faktenreich und von persönlichen journalistischen Erfahrungen unterfüttert. Sie klärt auf, macht wütend und stimmt einen eher pessimistisch. Man wünscht sich, dass dieses Buch nicht nur, jedoch vor allem in Ministerien und Medienhäusern gelesen wird – als Zeugnis jener letzten zwei Jahre, die für viele wie ein nie endender Fiebertraum wirken. Oder, um es mit den Worten der deutsch-palästinensischen Journalistin Alena Jabarine zu sagen: »Das Buch sollte in Deutschland Pflichtlektüre sein.«

Emran Feroz: »Wir wollen leben!« Von Afghanistan bis Gaza – ein Aufschrei gegen Entmenschlichung und Krieg. Westend, 96 S., br., 12 €.

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