NSU-Prozess: Von nichts was gewusst

Im zweiten NSU-Prozess kommt die Aufklärung nicht voran. Die Zeugen zeigen sich ahnungslos

  • Joachim F. Tornau
  • Lesedauer: 4 Min.
Proteste vor dem Gerichtsgebäude in Dresden
Proteste vor dem Gerichtsgebäude in Dresden

Es dauert erstaunlich lange, bis Simone Herberger der Kragen platzt. Erst beim fünften Zeugen, den sie in dieser Woche im Dresdner NSU-Prozess vor sich sitzen hat, ringt sich die Richterin eine Ermahnung ab. »Es wäre wirklich schade«, sagt die Vorsitzende des Staatsschutzsenats am sächsischen Oberlandesgericht, »wenn wir gegen Sie ein Verfahren wegen Falschaussage einleiten müssten.« Mehrere Stunden voller demonstrativem Unwillen, Erinnerungsfaulheit und wohl auch mancher Lüge hat das Gericht da schon über sich ergehen lassen.

14 Jahre nach der Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) und sieben Jahre nach dem Urteil im Münchner NSU-Prozess wird seit Anfang November noch einmal über die rassistische Mordserie, die Bombenattentate und die Banküberfälle der extrem rechten Terrorzelle verhandelt. Angeklagt ist Susann E., einst beste Freundin der zu lebenslanger Haft verurteilten Rechtsterroristin Beate Zschäpe. Sie soll dem Kerntrio des NSU beim Leben unter falschen Identitäten in Zwickau geholfen haben. Ihr Mann André E. ist deshalb bereits im Münchner Prozess verurteilt worden, kam mit zweieinhalb Jahren Haft jedoch sehr glimpflich davon.

Große Erwartungen sind mit diesem neuerlichen Verfahren verbunden. Angehörige der Opfer hoffen darauf, doch noch Antworten zu bekommen auf die vielen offenen Fragen: Warum wurden ausgerechnet ihre Väter, Söhne und Brüder ermordet? Wer half den Mördern? War der NSU wirklich nur zu dritt? Eine kritische Öffentlichkeit hofft, dass die auf halber Strecke stecken gebliebene Aufklärung doch noch weitergeht. Doch Zschäpe, die vor zwei Wochen als Zeugin im Prozess auftrat, blieb die ersehnten Antworten schuldig.

»Ich hab damit ja nichts zu tun,warum soll ich mich damit auseinandersetzen?«

Zeugin im NSU-Prozess

Jetzt versucht es das Gericht beim damaligen Freundeskreis von Susann E. und ihrem Mann. Und um es diplomatisch auszudrücken: Es wird nicht besser. Als die Richterin dem Zeugen in die Parade fährt, hat der gerade behauptet, die Angeklagte und ihr Gatte seien politisch – so wie er selbst auch – „neutral“. Dabei hatte der 45-jährige Zwickauer bei der Polizei noch etwas ganz anderes erklärt: André E. sei „stramm rechts“ und „kein Dummer“, finde das NS-Regime „ganz okay“ und lehne „Ausländer“ ab. „Eigentlich“, gab der Mann damals zu Protokoll, „habe ich nicht verstanden, was er gemeint hat, aber ich war im Grunde derselben Meinung.“ Nun will er sich daran nicht mehr erinnern können.

Auch seine Freundin erklärt zunächst, von einer rechten Gesinnung bei den E.s nichts bemerkt zu haben. Die antisemitischen und den Nationalsozialismus verherrlichenden Tattoos von André E. habe sie sich „nicht angeguckt“. Doch dann muss sie einräumen, dass die Freundschaft nicht nur auf der geteilten Liebe zu Metal-Musik, Hunden und Kindern beruhte. Sondern auch auf der gemeinsamen politischen Haltung. Die heute 43-Jährige und die Angeklagte kannten sich schon, als Susann E. in den Nullerjahren Treffen der religiös-völkischen und seit 2023 verbotenen „Artgemeinschaft“ besuchte.

In Dresden wiederholt sich, was bereits den ersten NSU-Prozess in München geprägt hat: Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Und manche Zeug*innen kommen erst gar nicht. Ein Ex-Freund von Susann E., ehemals Chef der Zwickauer »Werwolf Security« und den Behörden unter anderem wegen Körperverletzung und der Verwendung verbotener NS-Symbole bekannt, hat seine Ladung angeblich nicht bekommen.

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Ein mutmaßlicher Liebhaber, der mit den „Nationalen Sozialisten Chemnitz“ in Verbindung gestanden haben soll, sagt krankheitsbedingt ab – allerdings ohne ein ausreichendes Attest vorzulegen. Der heute 41-Jährige war bei der Angeklagten, als deren Wohnung nach der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 von der Polizei durchsucht wurde. André E. hatte sich da mit den Kindern schon zu seinem Zwillingsbruder nach Brandenburg abgesetzt.

Für noch mehr Kopfschütteln im Saal aber sorgt die Kühle, die völlige Empathielosigkeit, mit der sämtliche der anwesenden Zeug*innen nach eigenem Bekunden auf das Bekanntwerden des NSU reagierten. Und darauf, dass auch ihre Freundin von Beginn an mit im Fokus der Ermittlungen stand, inklusive Hausdurchsuchung und Festnahme des Ehemanns. Selbst Menschen, die nicht aus der rechten Szene stammen, sagen: Nö, da hätten sie nicht weiter nachgefragt. »Mich hat das nicht interessiert«, sagt eine 41-Jährige. »Man kann gewisse Themen beiseiteschieben.« Eine andere mault: »Ich hab damit ja nichts zu tun, warum soll ich mich damit auseinandersetzen?« Als gehe es um Ladendiebstahl und nicht um zehn Morde und rechten Terror. Am 7. Januar wird der Prozess fortgesetzt.

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