- Politik
- 35 Jahre gesamtdeutscher Bundestag
Erster gesamtdeutscher Bundestag: Ostdeutsche nicht willkommen
Am 20. Dezember 1990 nahmen im Bundestag auch erstmals gewählte ostdeutsche Abgeordnete ihre Arbeit auf
Das Ereignis gilt als historischer Moment der deutschen Geschichte. Als solchen empfanden es wohl die meisten, die dabei waren, als sich am 20. Dezember 1990 der erste gesamtdeutsch gewählte Bundestag im noch nicht umgebauten Berliner Reichstagsgebäude konstituierte.
Auch Dagmar Enkelmann erinnert sich an die feierliche und gemessene Stimmung und die beeindruckende Rede von Willy Brandt. Sie war damals 34 Jahre jung und eine der 17 gewählten Abgeordneten, die die PDS in den damals eigentlich noch in Bonn residierenden Bundestag entsenden konnte. Freilich nicht als vollwertige Fraktion, sondern als Gruppe. Denn die Nachfolgepartei der in der DDR regierenden SED hatte nur auf deren früherem Gebiet bei der Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 die Fünfprozenthürde überwunden.
Die Wahl hatte sehr schnell nach der am 3. Oktober vollzogenen Fusion der beiden deutschen Staaten stattgefunden, die juristisch ein Beitritt der DDR zum Staatsgebiet der Bundesrepublik war. Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) und die Koalition von Unionsparteien und FDP bekamen klar einen weiteren Regierungsauftrag: CDU und CSU erhielten 43,8 Prozent, die Liberalen elf Prozent der Stimmen, die SPD dagegen nur 33,5 Prozent, damals ein schlechtes Ergebnis.
Neben den Bürgern der DDR waren übrigens auch die Westberliner erstmals wahlberechtigt. Die gesetzliche Mitgliederzahl des Bundestages wurde von 500 auf 656 erhöht. Das Besondere an dieser Wahl: Die östlichen Bundesländer mit Ostberlin und die westlichen mit Westberlin bildeten separate Wahlgebiete, deren Ergebnisse getrennt gezählt wurden. Auch wenn eine Partei nur in einem der beiden Gebiete die Fünfprozenthürde überwand, konnte sie nach den damals geltenden Ausnahmeregeln in den Bundestag einziehen.
Eine ostdeutsche Grünen-Gruppe
Davon profitierte neben der PDS auch Bündnis 90/Die Grünen. Einmaliges Ergebnis, heute undenkbar: Das in Ostdeutschland kandidierende Bündnis 90/Die Grünen, in dem sich Bürgerrechtsgruppen wie Neues Forum und Demokratie Jetzt sowie die Grüne Partei der DDR zusammengeschlossen hatten, erhielt dort 6,1 Prozent der Wählerstimmen, während die Westgrünen mit 4,4 Prozent im Wahlgebiet West nach zwei Legislaturperioden im Bonner Parlament an der Fünfprozenthürde scheiterten.
Das Ergebnis war eine achtköpfige Gruppe ostdeutscher Abgeordneter, der wie jener der PDS der Fraktionsstatus versagt blieb. Sie brachten unter anderem das Stasiunterlagengesetz auf den Weg, aus dem die Gründung der Stasiunterlagenbehörde resultierte. Es folgten über viele Jahre Anfragen für alle Ostdeutschen, die in Bildung, an Universitäten, Gerichten und anderswo im öffentlichen Dienst arbeiteten. Waren sie irgendwann als »Inoffizielle Mitarbeiter« des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit registriert, führte das zum Ausschluss von der Arbeit in den genannten Bereichen.
Zugleich war die Gruppe divers. So gehörte einerseits Vera Wollenberger (heute Lengsfeld) dazu, die später zur CDU wechselte und mittlerweile im AfD-Rechtsaußen-Umfeld gelandet ist. Der Physiker Christian Schenk wiederum kam über den Unabhängigen Frauenverband ins Bündnis und in die im März 1990 gewählte letzte DDR-Volkskammer. Im Bundestag wechselte er 1994 in die PDS-Fraktion, setzte sich für die Gleichstellung von Lesben und Schwulen ebenso ein wie für die Streichung des Abtreibungsparagrafen 218 aus dem Strafgesetzbuch. In der PDS-Fraktion entwickelten er und sein Team Ideen für ein Elterngeld anstelle des Erziehungsgeldes nach Geburt eines Kindes in Höhe von nur 600 D-Mark monatlich – lange, bevor ein solches Modell mehrheitsfähig war. Schenk trat damals noch unter einem anderen Vornamen auf; seit seinem Ausscheiden aus dem Bundestag 2002 lebt er öffentlich als trans Mann.
Ein Solitär in der politischen Landschaft der vergrößerten BRD wiederum war Ingrid Köppe, die über das Neue Forum erst zum Runden Tisch der DDR, dann zur Volkskammer und schließlich mit Bündnis 90/Die Grünen, dessen Bildung sie eigentlich abgelehnt hatte, in den Bundestag gekommen war. Sie hatte sich zuvor vehement gegen eine deutsche Wiedervereinigung gewandt.
1993 forderte sie die Abschaffung der bundesdeutschen Geheimdienste, im selben Jahr stimmte sie gegen die Aushöhlung des Grundrechts auf Asyl im Grundgesetz. Sie kandidierte 1994 nicht erneut für den Bundestag und zog sich vollständig aus der Politik zurück. Als sie 1995 das Bundesverdienstkreuz erhalten sollte, lehnte sie die Annahme ab. Die Auszeichnung stehe »im Gegensatz zur realen Geringschätzung der Anliegen der Bürgerbewegung« der DDR in der Bundesrepublik.
Paternalistischer Umgang
Das Desinteresse der Alteingesessenen im Bundestag an den Erfahrungen der Ostdeutschen und das Gefühl, nicht für voll genommen zu werden, stieß damals auch Dagmar Enkelmann sauer auf. Zu ihrer eigenen Überraschung wurde sie ausgerechnet an jenem 20. Dezember 1990 von anwesenden Journalisten zur »Miss Bundestag« gekürt. Sie habe sich damals empört an Gregor Gysi, den Chef der PDS-Gruppe, gewandt und wollte die zweifelhafte Ehrung zurückweisen. Gysi habe aber gemeint, sie solle es hinnehmen, schließlich würden sie und mit ihr die PDS im Bundestag so bekannter, erzählt Enkelmann im Gespräch mit »nd«.
Auch andere Frauen seien damals oft auf ihr Erscheinungsbild reduziert worden. Ihre eigene Kompetenz als Verkehrs- und Umweltpolitikerin sei oft in Frage gestellt worden. Solcher Umgang mit Frauen gehöre glücklicherweise inzwischen der Vergangenheit an.
Den PDS-Abgeordneten sei damals insgesamt mit Feindseligkeit, mindestens aber mit Ausgrenzung begegnet worden, erzählt Enkelmann. Sie war später in der Linken weiter Politikerin und leitete zuletzt zehn Jahre lang die Rosa-Luxemburg-Stiftung (bis 2022). Am unangenehmsten seien ihr damals jene Kollegen – es waren überwiegend Männer – gewesen, die im Plenum Hassreden geschwungen hätten, nur um dann hinter den Kulissen zu sagen, das sei alles nicht so gemeint.
»Unsere Auseinandersetzungen sollten sachlich den Bürgern zugewandt sein, die wir zwar jeder für sich und mit seinen Gleichgesinnten, aber eben auch miteinander zu vertreten haben.«
Willy Brandt Alterspräsident des Bundestages, 1990
Im Vergleich zur letzten DDR-Volkskammer, der Enkelmann wie die meisten anderen ostdeutschen Bundestagsabgeordneten zuvor angehört hatte, sei die Arbeitsweise des Bonner Parlaments fast ein »traumatisches Erlebnis« gewesen. Da habe sich jeder hauptsächlich für sein Spezialgebiet interessiert. Oft habe man vor leeren Reihen gesprochen. Dagegen hätten sich in der Volkskammer fast alle mit allen anstehenden Aufgaben befasst. Dass die meisten Abgeordneten an jeder Plenarsitzung teilnahm, sei selbstverständlich gewesen.
Und während in der Volkskammer die meisten sach- und lösungsorientiert parteiübergreifend kooperiert hätten, sei nun alles entlang von Parteilinien verhandelt worden. So habe es eine Zeitlang eine Gruppe ostdeutscher Abgeordneter aus allen Parteien gegeben, die Vorschläge für die Wahrung der Interessen der DDR-Rentner und ein neues gesamtdeutsches Rentensystem erarbeiten wollte. Union und SPD hätten die Mitarbeit ihrer Abgeordneten dann aber bald unterbunden. Im Vergleich zur Volkskammer habe sie in diesem Parlamentarismus erhebliche Demokratiedefizite wahrgenommen, sagt Enkelmann.
Die damaligen PDS-Abgeordneten Uwe-Jens Heuer und Gerd Riege schrieben über den Umgang mit den »Neuen« im »Raumschiff Bundestag« in ihrem Buch »Der Rechtsstaat – eine Legende?«, man habe oft Sätze wie »Sie werden das auch noch lernen« gehört. Dagegen sei niemals konstatiert worden, dass »die Neuen vielleicht eine interessante Variante in die parlamentarischen Abläufe eingebracht hätten, die bemerkenswert sei«. Die beiden Politiker weiter: »So blieb der Wunsch, wir mögen dem Bundestag ein wenig frische Luft bringen, vielleicht mehr fromm als wirksam.«
Geäußert hatte diesen Willy Brandt in an jenem Tag der Konstituierung des ersten gesamtdeutsch gewählten Parlaments. Als Alterspräsident hatte der damals 77-jährige Altkanzler die Legislatur mit einer Rede eröffnet, die parteiübergreifend als ebenso humorvoll wie nachdenklich wahrgenommen wurde.
Der SPD-Politiker hatte eben jene lösungsorientierte Kooperation angemahnt, die die Ostdeutschen später teils schmerzlich vermissten. Für Meinungsstreit, aber auch für »jenen Grundkonsens, der die verfassungsmäßigen Grundfesten sichert« sprach sich Brandt aus. Die »staatspolitische Gleichwertigkeit« aller Abgeordneten habe »außer Zweifel zu stehen«, so der Alterspräsident. Und weiter: »Unsere Auseinandersetzungen sollten sachlich den Bürgern zugewandt sein, die wir zwar jeder für sich und mit seinen Gleichgesinnten, aber eben auch miteinander zu vertreten haben.«
Und noch etwas betonte Brandt in seiner in vielerleich HInsicht erschreckend wie ermutigend aktuellen Rede: »Die Überlebensfragen der Menschheit lassen jedenfalls kein Land unberührt, und Deutschland würde Schuld auf sich laden, wollte es über seinen eigenen die globalen Sorgen Welthunger, Armutswanderungen, Umweltzerstörung vergessen.«
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