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»Kompromiss auf Kosten der Kurden«

Türkische Regierung hat Generäle durch Eskalation der Minderheitenfrage besänftigt

  • Lesedauer: 4 Min.
Prof. Dr. Cengiz Gülec, ehemals Parlamentsabgeordneter, ist Sprecher der »Friedensversammlung« (Türkiye Baris Meclisi), einer Dachorganisation linker Parteien, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen, die sich für eine Dialoglösung in der Kurdenfrage engagieren. Mit ihm sprach in Ankara Nico Sandfuchs über die Hintergründe der türkischen Offensive.
»Kompromiss auf Kosten der Kurden«

ND: Vor den Parlamentswahlen im vergangenen Juli hat die türkische Regierungspartei AKP immer wieder Hoffnungen auf eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts geweckt. Warum eskaliert nun die Gewalt?
Gülec: Die genauen Gründe für diesen Wandel sind natürlich schwer auszumachen. Aber es ist zu vermuten, dass die hoffnungsvollen Gesten, mit denen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan vor den Wahlen die Kurden besänftigte, Elemente der Wahlkampfstrategie waren, um die Stimmen der kurdischen Wählerschaft zu gewinnen. Das ist ihm zum Teil ja auch gelungen. Zum anderen aber ist offensichtlich, dass Regierung und Militär nach dem schweren Konflikt um die Wahl Abdullah Güls zum Staatspräsidenten im vergangenen Jahr einen Kompromiss geschlossen haben. Die gefährlichen Spannungen zwischen beiden Machtzentren scheinen letztlich auf Kosten der Kurden beigelegt worden zu sein.

Wie sieht der Kompromiss aus?
Als im vergangenen Jahr die Möglichkeit eines Putsches im Raum stand, wird sich auch Erdogan Gedanken darüber gemacht haben, wie er das Misstrauen der Generäle ihm gegenüber am besten besänftigen oder zumindest in andere Bahnen lenken könnte. Und natürlich weiß auch Erdogan, dass dafür kaum etwas anderes so gut geeignet ist wie die Kurdenfrage. Denn die Militärs fordern schon lange ein hartes Durchgreifen – und eine Militäroperation in Nordirak, um die Unabhängigkeitsbestrebungen der irakischen Kurden, die vom türkischen Militär als ernste Bedrohung gesehen werden, zu vereiteln. Was liegt da also näher, als den Militärs Zugeständnisse in der Kurdenfrage zu machen?

Andererseits war es aber wenig wahrscheinlich, dass Erdogan seine Initiative für einen Wandel in der staatlichen Kurdenpolitik konsequent zu Ende führen würde. Es macht in der Türkei nämlich gar keinen Unterschied, ob eine linke Partei die Regierungsgeschäfte führt oder eine rechte. In der Kurdenfrage haben bislang alle Regierungen zu guter Letzt auf das Mittel der Gewalt und der Unterdrückung zurückgegriffen.

Woran liegt das?
Seit Jahrzehnten gibt es dem staatlichen Selbstverständnis zufolge zwei Gefahren, gegen die die Türkei mit allen Mitteln verteidigt werden muss: die »religiöse Gefahr« und die Möglichkeit einer Abspaltung der Kurden. Und wer verteidigt die Republik gegen diese Gefahren? Das Militär, das seit vielen Jahren eine sehr mächtige Stellung innerhalb des Staatsgefüges einnimmt. Aus diesem Grunde spielt es auch überhaupt keine Rolle, welche Regierung gerade im Amt ist. Wenn die Generäle ein militärisches Eingreifen in der Kurdenfrage für nötig halten, dann kann es sich keine Regierung leisten, sich dieser Forderung dauerhaft zu widersetzen.

Das Eingreifen des türkischen Militärs in den Kurdenkonflikt hat bereits »Tradition«.
Seit der Gründung der Republik hat das Militär eine ganze Reihe kurdischer Revolten niedergeschlagen. Dennoch drängt das Problem immer wieder auf die Tagesordnung. Das liegt vor allem an der Ideologie, auf die die Türkei gegründet worden ist. Nach dem Untergang des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg war es das Anliegen der Gründungsväter der Republik, die Reste des Reiches in einen Nationalstaat umzuwandeln. Und zwar einen Nationalstaat, in dem die türkische Ethnie die uneingeschränkte Hauptrolle spielt. Die Existenz nichttürkischer Bevölkerungsgruppen wurde dabei über Jahrzehnte völlig ignoriert. Alle Emanzipationsbestrebungen wurden unterdrückt, was natürlich auf Dauer nicht gut gehen kann. Aufgrund der staatlichen Verleugnungspolitik drängt die Kurdenfrage immer wieder auf die Tagesordnung. Die Ursachen des Konfliktes liegen also nicht, wie häufig geglaubt wird, in den 70er Jahren oder in dem Putsch von 1980, sondern sie liegen viel früher, in der Gründungsphase der Republik.

Gegen den Einmarsch in Nord-irak regt sich in der Türkei nur wenig Protest. Warum?
Zunächst einmal gibt es keine wirkliche Opposition in der Türkei, wenn man von der kurdischen DTP und der türkischen Linken einmal absieht. Zum anderen wird in weiten Teilen der Medien eine regelrechte Desinformationskampagne betrieben, die die Menschen glauben macht, dass es einzig und allein eine gewaltsame Lösung der Kurdenfrage geben könne.

Um so wichtiger ist die Rolle, die zivilgesellschaftliche Institutionen wie die »Friedensversammlung«, die ich vertrete, spielen. An Stelle der nicht vorhandenen Opposition bauen wir eine Gegenöffentlichkeit auf, indem wir immer wieder darauf hinweisen, dass der Konflikt nur durch einen Dialog dauerhaft gelöst werden kann. Und dadurch, dass die Ursachen innerhalb des Systems, insbesondere die Ausgrenzung der nichttürkischen Bevölkerungsteile, beseitigt werden.

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