Heldenmut und unnötige Opfer

Die Rote Armee im Großen Vaterländischen Krieg

  • Gerd Kaiser
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Herz blutet einem«, notierte Alexander Twardowski in seinem Tagebuch über den Winterkrieg in Karelien (November 1939 bis März 1940), »wenn man seine gefallenen Kameraden liegen sieht. Besonders ergreifend und schmerzvoll ist es, wenn ein Einzelner so daliegt, im Schnee, zugedeckt mit seinem Mantel ... Die Kameraden sind bereits weitergezogen, er aber liegt und liegt und an ihn denkt man immer seltener ... In einem Krieg hart auf hart wird der einzelne Mensch für gewöhnlich vergessen.« Ja, und nicht nur der Tote.

Die Zahl der Erinnerungen hoher Militärs der Sowjetarmee an ihre Feldzüge im »Großen Vaterländischen Krieg«, der mit dem heimtückischen Überfall Hitlerdeutschlands am 21. Juni 1941 begann, geht dagegen in die Dutzende. Nicht wenige erschienen in deutschen Übersetzungen (eine der ersten im Militärverlag erschienenen Memoiren übersetzte unser Rezensent, ND). Erinnerungen einfacher Frontsoldaten – Fehlanzeige. Allerdings sind einige in jüngster Zeit erschienen, z. B. die von Richard Lakowski und Hans-Joachim Büll lesenswerte »Lebenszeichen« (Feldpostbriefe). Die Sicht auf den Krieg aus dem Schützengraben oder aus der Panzerwanne, beim Rückzug, in der Verteidigung und beim Sturmangriff, reicht in Russland vom populären Poem des eingangs erwähnten Schriftstellers über den unsterblichen literarischen Helden des Soldatenalltags Wassili Tjorkin bis hin zu zahlreichen Dokumentenbänden.

Nun also »Iwans Krieg« – über den unbekannten Soldaten, den toten wie den überlebenden. Der Band, nicht die nach wie vor fehlenden authentischen Erinnerungen des einfachen Soldaten. Dieses Buch ist eine flüssig geschriebene Geschichte des Krieges aus der Feder einer jungen englischen Wissenschaftlerin. Catherine Merridale wertete vorwiegend bisher unbekanntes Material aus, das sie in zentralen und regionalen russischen Archiven, aber auch im Militärarchiv in Freiburg i. Br. fand. Sie führte mehr als 200 Interviews mit ehemaligen Frontsoldaten. Ihre Quellenbasis ist beachtlich und kann doch nur einen Ausschnitt bieten, der zudem emotional und persönlich gefärbt ist. Ihre – wo angebracht – gefühlvolle Darstellungsweise wird zuweilen durch gefühlige Auslassungen geschmälert. Zusätzlich belastet wird sie vor allem dann, wenn ihr Urteil aus Beckmesserei erwächst, die der Überheblichkeit der Britin gegenüber dem »Iwan«, dem Prototypen des russischen Frontsoldaten, und z. T. auch gegenüber kulturellen und künstlerischen Werken russischer Intellektueller, die dem Krieg vorausgingen und ihn begleiteten, geschuldet sind. Nicht nur die Land-Land-ease-Lieferungen der USA, sondern Millionen Sowjetsoldaten haben die »splendid isolation« Großbritanniens gesichert. Respekt dafür wäre das Mindeste, was zu erwarten ist. Nach der offiziellen Statistik wurden im Zweiten Weltkrieg über 34 Millionen Männer in die Rote Armee sowie in die Rüstungsbetriebe eingezogen. Knapp zwölf Millionen gaben ihr Leben für ihr Land – und für die Befreiung Europas vom Hakenkreuz. Es sei nicht vergessen, dass die mittlere Lebenserwartung eines Rotarmisten zu Beginn des »Großen Vaterländischen Krieges« bei drei Wochen lag.

Ein Verdienst der Autorin ist die Zuwendung zum Zeitzeugen, der entgegen einer ignoranten Meinung in der Zunft der Historiker nicht a priori deren »Feind« ist, sondern ihm die Augen öffnen und den Verstand schärfen kann. Hervorzuheben ist auch, dass ihre Darstellung nicht wie zumeist im Sommer 1941, sondern im Herbst 1939 beginnt, mit den nicht erklärten Kriegen der Roten Armee gegen Polen und Finnland. In ihrem Urteilsvermögen hat sie sich allerdings selbst beschränkt, indem sie neben Gefälligkeitsgutachten geschlagener Wehrmachtsgenerale in US-amerikanischer Gefangenschaft sowie Publikationen englischsprachiger Autoren unterschiedlichster Coleur en masse abruft, Zeugnisse sowjetischer Heerführer und Publizisten jedoch nicht.

Herausgekommen ist ein Buch mit beeindruckenden Passagen über massenhaften Heldenmut, aber auch das »Verheizen« von Soldaten, über massenpsychologisch erklärbares Verhalten von Millionen in Zeiten unerwarteter und nicht erklärter Rückzüge auf breiter Front und ihren aus Heimatverbundenheit und antifaschistischer Befreiungsmission herrührenden Glauben an den Sieg über die »deutsche Bestie«. Catherine Merridale spart die dunklen Seiten nicht aus: den Widerspruch zwischen offiziellen Vorhersagen und tatsächlichem Kriegsverlauf, zwischen der Mission der Sowjetarmee und der tatsächlichen Einstellung großer Teile dieser Streitmacht gegenüber Alkohol, Frauen, Plünderungen. Auch nicht den Widerspruch zwischen der politischen Verantwortung für Rückzüge und Verluste der Roten Armee und dem Verhalten der Führung gegenüber Millionen von Kriegsgefangenen, die durch strategische Fehleinschätzungen in die Hände des Feindes gefallen waren, jedoch von denen erneut inhaftiert wurden, die sie erst in diese missliche Lage gebracht hatten.

Das Buch ist reich an neuen Forschungsansätzen, allerdings mit alten Denkmustern einer jungen Autorin. Es ist zur Lektüre mit kritischer Distanz zu empfehlen. Gewarnt sei vorab auch vor Ungenauigkeiten und Fehlern. So nahm die Wehrmacht im Dezember 1941 mitnichten ein Drittel der UdSSR ein und die Rote Armee marschierte keineswegs unter Rokossowski im Juli 1944 in Polen ein.

Catherine Merridale: Iwans Krieg. Die Rote Armee 1939-1945. S. Fischer, Frankfurt (Main). 500 S., geb., 22,90 EUR; ab August 2008 broschürt für 9,90 EUR.

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