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Ein Leben auf dem Eis

Jutta Müller, erfolgreichste Eiskunstlauftrainerin der Welt, wird 80

  • Manfred Hönel
  • Lesedauer: 5 Min.
Heute vor 80 Jahren meldete sich Jutta Müller, die später zur erfolgreichsten Eiskunstlauftrainerin der Welt aufstieg, ganz unerwartet an. Gestern war sie im Chemnitzer Rathaus zur Ehrenbürgerin der Stadt gekürt worden. Eine verdiente Ehrung. Immerhin führte sie ihre Schützlinge zwischen 1966 und 1991 zu 57 Medaillen bei Europa- und Weltmeisterschaften sowie Olympischen Spielen – und alle alle kamen sie aus den Regionen Chemnitz und Dresden.

Wie so oft in ihrem späteren Leben hatte Jutta Müller bereits am 13. Dezember 1928 für eine Überraschung gesorgt. Mutter Marie Lötzsch bediente in ihrem kleinen Schuhladen in der Chemnitzer Mühlenstraße gerade eine Kundin, als die Wehen einsetzten. Wenig später erblickte Jutta fast zwei Monate zu früh das Licht der Welt. Das Mädchen zeigte also schon von Anbeginn ihres Lebens eine energische Natur.

Ihr Vater Emil Lötzsch, Werkmeister bei der Deutschen Reichsbahn und mehrfacher sächsischer Ringermeister, und ihre Mutter Marie, eine Turnerin, führten die Tochter schon in ganz jungen Jahren an den Sport heran. Bereits in den ersten Schuljahren begeisterte sich Jutta für das Eis- und Rollschuhlaufen. Genauso gern ging sie zum Ballett. Noch heute ist ein gewisser Stolz herauszuhören, wenn die Jubilarin von ihren Auftritten im Kinderballett des Chemnitzer Opernhauses erzählt.

Im Damen-Paarlauf zum ersten Meistertitel

Als im Januar 1949 die 1. Ostzonenmeisterschaft in Oberhof stattfanden, war auch Jutta dabei. Der Februar war damals mild. Meist erlaubte das Eis erst nach Mitternacht einen Kürvortrag. So liefen morgens um 2 Uhr die Organisatoren mit Megaphonen durch Oberhof und verkündeten den Beginn der Meisterschaft. Um 2.30 Uhr säumten schließlich 8000 Zuschauer die Eisbahn von Oberhof in der Nähe des heutigen Kurparks. Als spezielle Disziplin wurde der Damen-Paarlauf ausgetragen. Eine Notlösung, weil viele der männlichen Partner ihr Leben im Krieg eingebüßt hatten.

So tanzte Jutta Seyfert – wie sie damals in erster Ehe hieß – mit ihrer Partnerin Irene Salzmann zum Meistertitel. Der Sieg glich einem Wunder. Nur zehn Wochen vorher war Jutta von ihrer Tochter Gaby entbunden worden. »Wie ich das drei Wochen nach der Geburt mit dem Training gemacht habe, weiß ich heute wirklich nicht mehr.«

In Berlin hatten tausende Helfer eine zerstörte Kühlhalle des Viehhofs im April 1950 zur Mehrzwecksporthalle »Werner Seelenbinder« umgebaut – dort, wo sich heute das Velodrom befindet. Die besten Eisläufer begannen als Nationalmannschaft zu trainieren. Mit der Britin Magen Taylor wurde eine Weltmeisterin als Trainerin engagiert, die nach nur drei Monaten wieder abdüste mit den Worten: »Ihre Läuferinnen sind gut für eine WM – zum Kartenabreißen.«

Daraufhin zog Manfred Ewald, später Präsident des Deutschen Turn- und Sportbundes, einen Schlussstrich. Er löste das Nationalteam auf und schickte einige – darunter Jutta Müller, Inge Wischnewski, die später Christine Errath zum Weltmeistertitel führte, und Irene Salzmann – zum Trainerstudium an die Deutsche Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig. Darüber vergoss sie damals Tränen. Heute sagt sie: »Es war ein richtiger Schritt.«

Als ihre erste Schülerin führte sie Tochter Gaby Seyfert, die vor drei Wochen ihren 60. Geburtstag beging, 1967 zum ersten EM-Gold, 1969 und 1970 zu Weltmeisterehren und leitete damit die unglaubliche Erfolgsära der Karl-Marx-Städter Eislaufschule ein. »Ich bin froh, ausgerechnet mit meiner Tochter den Schritt gegangen zu sein«, sagt die Jubilarin heute.

1980 wurde Anett Pötzsch unter ihrer Regie erste deutsche Eiskunstlauf-Olympiasiegerin. Doch damit nicht genug: Bei diesen Winterspielen in Lake Placid hatte zuvor mit Jan Hoffmann ein weiterer Müller-Schützling nach seinem ersten WM-Titel (1974) nun olympisches Silber gewonnen.

Katarina Witt – Krönung ihrer Trainerlaufbahn

Es vergingen nur vier Jahre, da folgte mit Katarina Witt die nächste Sächsin auf dem Goldthron. Mit ihr erlebte die heute 80-Jährige 1987 in Cincinnati (USA) einen weiteren Höhepunkte ihrer Karriere. Vergessen waren bei Katarina die harten Trainingsstunden im Sommer, als sie trotzig gegen die Bande trat, weil sie der Anweisung ihrer Trainerin nicht folgen wollte.

In einer gemütlichen Runde bei einer amerikanischen Familie, die als Paten für die kleine DDR-Gruppe ausgesucht worden war, gestand Jutta Müller damals 1987: »Ich kennen Katarinas Kür nun schon seit zweieinhalb Jahren. Ich sehe sie jeden Tag. Ich habe die Kür im Wesentlichen mit erdacht, Musik und Kostüm mit ausgewählt. Eine Traumkür. Bei jedem Sprung habe ich mich auf die Zehenspitzen gestellt. So, als wollte ich Katarina hochheben. Aber das war gar nicht notwendig. Kati war einfach wunderbar.« Auch 21 Jahre später ist Jutta Müller fest überzeugt: »Das war Katarinas beste Kür aller Zeiten. Die Höchstnoten 6,0 hatte sie sich redlich verdient.«

Wer tiefer bohrt, bringt die erfolgreiche Trainerin allerdings in Zweifel. War die »Maria« von Cincinnati 1987 tatsächlich die Nummer eins oder die »Mona Lisa« beim olympischen Goldtanz von Sarajevo 1984 – oder doch die unglaubliche Carmen-Interpretation beim zweiten Olympiasieg 1988 in Calgary? Es waren nicht nur der Charme und die Attraktivität der schönen Katarina, von der sich die Eiskunstlauffans angezogen fühlten. Mit Katarina Witt, der erfolgreichsten Eiskunstläuferin der Welt, endete eine Erfolgsära, die es seitdem im deutschen Eiskunstlauf nicht mehr gegeben hat und vorerst auch nicht wieder geben wird.

Trotz ihres Weltruhmes eine bescheidene Frau

Jutta Müller ist trotz ihres Weltruhmes eine bescheidene Frau geblieben. 1963 zog sie mit ihrem Mann Bringfried Müller, 19-facher DDR-Fußballnationalspieler bei Wismut Aue, in einen Karl-Marx-Städter Plattenbau, wo sie noch heute nach fast 53 Ehejahren mit ihrem Mann lebt. »In dieser Wohnung fühle ich mich zu Hause. Gleich nebenan ist ein Park. Wir wohnen im achten Stock und haben einen schönen Blick über Chemnitz. Hier ist meine Heimat.«

Von einem Standpunkt rückt Jutta Müller nicht ab: »Ohne mich, wären sie alle nicht Weltmeister geworden. Das nehmen ich für mich in Anspruch.« Vom Eis kann die nach wie vor temperamentvolle Frau auch mit 80 Jahren nicht lassen. Dreimal in der Woche übt sie mit Kindern. Oma Jutta (Enkelin Sheila ist inzwischen 35) gibt allerdings zu: »Ich habe es ganz gern, wenn mich die Kinder anfassen, um von einer auf die andere Seite des Eises zu gelangen.« Die Mädchen und Jungen sind dann immer ganz stolz, wenn sie mit der weltberühmten Trainerin über das Eis laufen dürfen.

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