Wenn Großvater von damals erzählte

Wie Manuel Reichardt, Enkel von Otto Buchwitz, den Jahrestag der Befreiung begeht – in Erinnerung und mit Stolz

Manuel Reichardt, Jg. 1948
Manuel Reichardt, Jg. 1948

»Ich hatte den tollsten Großvater der Welt«, sagt Manuel Reichardt. Und man glaubt es ihm. Das kommt aus tiefstem Herzen.

*

Manuel Reichardt ist ein Enkel von Otto Buchwitz, Sozialdemokrat alter Schule, Mitglied des Schlesischen Provinziallandtages, des Preußischen Landtages sowie des Reichstages und nach dem Krieg Präsident des Sächsischen Landtages und Alterspräsident der Volkskammer. Der junge Manuel lauschte gern den Erzählungen des Großvaters, vor allem, wenn er aus seiner Kindheit berichtete, die so ganz anders war als die eigene: Armut, Hunger, Bettelgänge und Demütigungen. Aber auch »abenteuerlich«. Da wurde der Knabe Otto von seinem Vater nachts aus dem Bett geholt, um im Schutze der Dunkelheit in Breslau Plakate zu kleben, die zu Versammlungen und Streiks aufriefen. Ein Freund des Vaters stand »Schmiere«. Wenn ein Gendarm anrückte, pfiff er »Hänschen klein«. Senior und Junior Buchwitz gaben dann Fersengeld.

Besonders spannend war für Manuel die Geschichte, wie sein Großvater den Nazis entkam. Der Reichstagsabgeordnete hatte mit seiner bereits stark dezimierten Fraktion gegen Hitlers »Ermächtigungsgesetz« gestimmt. Am folgenden Tag ging das Gerücht im Parlament um: »Heute wird Buchwitz kassiert.« Die Sitzung war kaum zu Ende, da wurde dieser von einem Genossen angesprochen: »Otto, ich bring Dich hier raus. Du musst mir später aber einen neuen Hut kaufen.« Buchwitz war etwas irritiert. »Karl Litke sah in seinem dunklen Anzug wie ein Kellner aus. Er reichte Großvater zwei weiße Handschuhe und einen schwarzen Hut mit breiter Krempe«, rekapituliert Reichardt die Erzählung des Ahnen. Dann liefen die beiden treppauf, treppab zum Hinterausgang, öffneten die Tür – und erstarrten: Hitlers Limousine, SA und SS. Litke reagierte blitzschnell: »Entschuldigen Sie, Exzellenz, Ihr Wagen steht ganz hinten.« Die Braunen knallten die Hacken zusammen und rissen die Arme hoch.

Diese beiden Geschichten kannten dereinst in der DDR fast alle Jungpioniere. In der Reihe »Die kleinen Trompeterbücher«, für Leser von acht Jahren an, war das Bändchen »Der berühmte Urgroßvater« erschienen. Das Büchlein beginnt mit einem Brief, den Buchwitz aus einem Erzgebirgsdorf erhält: »Lieber Genosse Otto Buchwitz! Mit uns geht ein Pionier in die Schule, der behauptet, Sie wären sein Großvater oder sein Urgroßvater ... Vielleicht könnten Sie einmal Ihren Urenkel besuchen und uns dann in unserer Schule etwas erzählen.« Urenkel Jürgen war ein Kindeskindkind aus Buchwitz' erster Ehe, die den politischen Belastungen um 1900 nicht standgehalten hatte.

Auch seiner zweiten Frau Elsa hat der Parteiarbeiter viel zugemutet. Nachdem er untergetaucht war, sah sie sich in Görlitz Schikanen ausgesetzt: Hausdurchsuchungen, Verhaftungen, Vernehmungen. Die SA grölte: »Wenn die Revolver knallen, muss Buchwitz als erster fallen.« Auf dem Obermarkt in Görlitz war ein Holzkäfig aufgestellt, in dem Buchwitz, sobald er gefasst wäre, öffentlich zur Schau gestellt werden sollte. Er blieb leer, ebenso wie die im KZ Löschwitz bereits für den Sozialdemokraten »reservierte« Zelle. Im Sommer 1934 war Buchwitz mit einem Ruderboot nach Dänemark geflohen. Reichardt hat die Briefe gelesen, die seine Mutter von ihrem Vater aus dem Exil erhielt, voller Ratschläge: »Sei geizig, stolz, verschwenderisch. Sei immer geizig mit deiner Zeit, nutze sie im Lernen und Arbeiten. Sei zu stolz, dich mit dummen Menschen zu vergleichen und mit diesen über ernste Fragen zu rechten. Sei immer verschwenderisch, armen Menschen zu helfen.« Buchwitz stand auf der Seite der Elenden und Entrechteten, sagt Reichardt. »Großvater war kein Amtsinhaber, kein Sesselfurzer. Auf ihn konnten sich die Arbeiter verlassen. Die Agenda 2010 oder die Wohnungsverkäufe in Dresden wären mit ihm nicht zu machen gewesen«, ist sich der Enkel sicher.

Am 9. April 1940 marschierte die Wehrmacht in Kopenhagen ein. Am Karfreitag, dem 17. April, wurde Buchwitz von kollaborierenden dänischen Polizeibeamten verhaftet und den Okkupanten übergeben. Er wurde zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Reichardt erzählt von der prophetischen Gabe des Großvaters. »Wenige Wochen vor der Befreiung haben ihn Mithäftlinge gefragt, wie lange es denn noch dauern würde. Obwohl die Geschützdonner der Roten Armee bereits zu hören waren, läutete weiterhin im Zuchthaus morgens um 5 Uhr das Sterbeglöckchen, das von Hinrichtungen kündete. Großvater sagte: ›An meinem 66. Geburtstag sind wir frei.‹« In der Tat öffneten Rotarmisten am 27. April 1945 die Gefängnistore in Brandenburg-Görden. Buchwitz wog nur 44 Kilo, konnte sich nicht auf den eigenen Beinen halten. »In einem Kinderwagen haben die Genossen ihn nach Dresden gefahren.« Frau Elsa und Tochter Edith waren vor den Görlitzer Nazis in die Elbmetropole geflüchtet. Sie haben die Bombennächte im Februar 1945 überlebt. »Meine Mutter plagten noch Jahre Albträume. Sie konnte die Menschen, die wie brennende Fackeln durch die Straßen irrten, nicht vergessen.«

*

Es stimmt offenbar, was ein Schlager verheißt – mit 66 Jahren fängt das Leben an. »Mein Großvater erlebte noch einmal einen unglaublichen Schaffensprozess. Er setzte sich für die Einheit der beiden Arbeiterparteien ein, weil diese für ihn das demokratische Fundament für ein neues Deutschland war.« Vor 1933 war Buchwitz kein Freund der Kommunisten, die er »Lakaien und Hausknechte Russlands« schimpfte. Nun wollte er »die Fehler von 1918/19 und 1933 nicht wiederholen«. Das brachte ihm etliche Anfeindungen von Genossen ein; sein ärgster Widersacher in Sachsen war Stanislaw Trabalski, den er »Krawalski« nannte. Buchwitz agitierte landauf, landab, erlitt einen Herzinfarkt und raffte sich wieder auf, als Gegner der Einheit seine Absetzung planten. Als sich dann Otto Grotewohl und Wilhelm Pieck am 23. April 1946 im Berliner Admiralspalast die Hände reichten, war aller Ärger vergessen. »Wer von den Ältesten und Alten war nicht zutiefst bewegt ... Ich sah die Augen manches Alten naß werden und gar manchen verstohlen eine Träne wegwischen«, schrieb Buchwitz in seinen Erinnerungen. Von den Repressalien gegen Sozialdemokraten in der sowjetischen Zone ist da nichts zu lesen. Reichardt weiß aber von seiner Mutter, die damals Sekretärin ihres Vaters war, dass »es dem Großvater sehr an die Nieren gegangen ist«. Er hat Listen von Inhaftierten angefertigt und die sowjetischen Organe aufgesucht. Reichardt berichtet, dass auch sein Vater, Kommunist und von den Nazis ins Strafbataillon 999 gepresst, ins Visier der Hüter der Reinheit der Partei geriet. Aber auch darüber sprach man nicht.

Der Enkel verhehlt nicht, dass ein berühmter Großvater einen Anspruch vorgibt, der »schwer zu erfüllen ist, wenn überhaupt«. Als er das Alter hinter sich hatte, wo man gern auf Großvaters Schoß sitzt und Geburtstagsrunden mit alten Kampfgefährten, »wo eine Lachsalve die andere jagt«, lustig findet, schlug er oft über die Stränge, gab es einige Ermahnungen. Der 18-Jährige spielte Gitarre und sang lieber eigene Texte statt Soldatenlieder – sollte aber Offizier werden. Er wurde vor den Kommandeurstisch zitiert: »Wir haben gehört, Sie wollen sich entpflichten?« Der benachrichtigte Vater redete dem Jungen ins Gewissen: die Pflicht als Enkel und Sohn von Antifaschisten Frieden und Sozialismus zu verteidigen. Otto Buchwitz war zwei Jahre zuvor, am 9. Juli 1964, verstorben.

Reichardt absolvierte die Offiziersschule und blieb sich und seiner Gitarre treu, »mischte Plauen auf« und eckte immer mal wieder an. In seinen Kaderakten wurde vermerkt, er neige zu sozialdemokratischen Ansichten. Das focht ihn jedoch nicht an. Er wurde Kulturoffizier bei den Grenztruppen und bewies Organisationstalent. »Ich habe sie alle ›gekriegt‹: City, Pankow, Stern Combo Meißen ... Alles, was angesagt war. Auch die Puhdys standen punkt neun Uhr auf unserem Exerzierplatz, wie versprochen. Unsere Jungs hatten ja Null Chance, etwas von der 750-Jahr-Feier in Berlin mitzubekommen.« Hans Hasso Stahmer, der erste, der in der DDR elektronische Musik machte, hat Reichardt in der Not geholfen, ihm einen Kellerraum im Klubhaus für Technik und Proben organisiert. »Dafür verpflichtete er sich, einmal im Monat für die Jungs zu spielen. Das hat er eingehalten. Später hörte ich im Radio: ›Stahmer spielt im Palast der Republik.‹ Ich freute mich. Er hat es also geschafft.«

Der Palast ist weg. Und die DDR. In den 50er Jahren ist Buchwitz oft nach Westdeutschland gereist, um als Mitglied des Deutschen Friedensrates für die Einheit Deutschlands zu werben. Er kam stets enttäuscht zurück, weiß der Enkel. Wie hat Reichardt den Mauerfall erlebt? »Am 9. November '89 hatte ich meine letzte große kulturelle Veranstaltung im Volkshaus Rummelsburg, mit Musik, Tanzen, Essen, Trinken, Auszeichnungen. Plötzlich verließ einer nach dem anderen den Saal, der Kommandeur, der Stabschef ... Ich war der letzte, habe das Licht ausgemacht, halb drei in der Nacht. Auf der Heimfahrt hörte ich im Radio, was passiert ist.« Nach der »Vereinigung« reiste Reichardt kreuz und quer durch Deutschland. »Es gibt so viele schöne Ecken zu entdecken, da reicht ein Leben nicht.«

*

Am heutigen Tag der Befreiung ist Reichardt in Meißen, im einstigen Wirkungskreis seines Großvaters und Geburtsort von Peter Sodann. Der linke Bundespräsidentschaftskandidat wird reden. Und mehrere Enkel von Überlebenden des Naziterrors werden dabei sein. Manuel Reichardt ist nun selbst Großvater, gibt Buchwitz' Erzählungen an Justin und Ricardo weiter; dem Älteren hat er jetzt das rote Trompeterbüchlein über den berühmten Urgroßvater geschenkt.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal