Eine Frage der Ehre

Warum Okcan, Onur, Gökay, Turabi und Deniz Helden sind

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 9 Min.
Die »Heroes«: gegen Unterdrückung im Namen der Ehre und für Gleichberechtigung. Ahmad Mansour (2.v.r.) ist einer ihrer Trainer.
Die »Heroes«: gegen Unterdrückung im Namen der Ehre und für Gleichberechtigung. Ahmad Mansour (2.v.r.) ist einer ihrer Trainer.

Sie sind keine Kinder mehr. Sie brauchen nicht mehr die Erlaubnis der Eltern, wenn sie ins Fernsehen oder in die Zeitung kommen sollen – sie können selbst entscheiden, ob sie das wollen. Und sie entscheiden selbst: Sie sind Männer.

Ich treffe sie in ihrer Ausbildungswerkstatt. Sie gehört »durch- bruch e.V.«. Der Verein, so setzt man mich schnell ins Bild, ging vor einem Vierteljahrhundert aus einer »sehr linken Bewegung« hervor und gibt »mit viel Liebe und Geduld« sozial benachteiligten Jugendlichen die Chance, den Beruf des Anlagenmechanikers für Sanitär-, Heizung- und Klimatechnik zu erlernen. In den Berliner Bezirken Wedding, Kreuzberg und Neukölln sind die meisten Jugendlichen sozial benachteiligt. Sie sind türkischer, kurdischer oder arabischer Herkunft. Nur wenigen wird das Glück zuteil, bei »durchbruch« aufgefangen zu werden. Soviel Geduld und Liebe, wie alle brauchten, kann der Verein nicht aufbringen. »Ein harter Job«, informiert man mich aus der Betreuerecke, »Drogen, Gewalt und Knast sind alltäglich.« Auch bei diesen Jungs, die soeben ein paar Stühle zum Kreis rücken? »Bei denen auch.«

Testosteron ballt sich im Raum. Die Männer haben sich entschieden: Das ZDF-Magazin »Mona Lisa« und »ND« dürfen berichten.

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Zu berichten ist über einen Workshop, den die »Heroes« mit ihnen veranstalten. Sagen wir: Die »Heroes« suchen das Gespräch. Oder noch anders: Junge muslimische Männer wollen mit jungen muslimischen Männern reden. Über die Ehre.

»Heroes« ist das Projekt eines weiteren Vereins, von »Strohhalm e.V.« Die Idee für das Projekt entstand in Schweden, nachdem dort Anfang 2000 mehrere »Ehrenmorde« für Entsetzen gesorgt hatten. In Berlin war 2005 Hatum Sücrücü erschossen worden - von ihrem Bruder. In Deutschland gibt es »Heroes« seit 2008, also noch nicht lange. Die »Helden« sind Söhne muslimischer Immigranten, die sich zusammengefunden haben, um das Bild, das die Öffentlichkeit von ihnen hat, zu verändern und anderen Söhnen von Immigranten Vorbild zu sein.

Einige »Heroes« habe ich vorab in ihrem Vereins-Domizil in Berlin-Neukölln kennenlernen dürfen. Dem Bild, das sich die Öffentlichkeit von Söhnen muslimischer Immigranten macht, entsprechen sie nicht: Turabi, Okcan und Gökay sind Gymnasiasten; Onur hat das Abitur bereits in der Tasche und will Wirtschaftsingenieur werden – nur acht Prozent der jungen Türken in Deutschland erwerben das Abitur. Auch sonst unterscheiden sie sich von der Masse ihrer muslimischen Altersgefährten: Ihre Mütter arbeiten, als Krankenschwestern oder Maschinenführerinnen bei »Gilette«, ihre Schwestern sind »relativ gleichberechtigt«, auch wenn zum Staubsaugen, wie bei Onur, »eher die Schwester gerufen wird«. Ihre Schwestern zu kontrollieren und im Namen der Ehre zu drangsalieren, fiele ihnen nicht ein. Doch sie wissen, dass »die Unterdrückung von Mädchen« in der muslimischen Kultur, die in Deutschland entstand, verbreitet ist – »in allen Ausführungen, bis zur Zwangsheirat«. Gegen diese Unterdrückung im Namen der Ehre vorzugehen, sei das Ziel von »Heroes«, erklärten sie mir.

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Beim Workshop bei »durchbruch e.V.« sind Turabi, Okcan, Gökay und Onur nicht dabei. Dafür ist Deniz gekommen, ebenfalls ein »Heroe«; so steht es auf seinem T-Shirt. Deniz wird in wenigen Tagen 20, auch er will nächstes Jahr Abitur machen. Ihm zur Seite stehen heute Ahmad Mansour und Yilmaz Atmaca. Beide sind so etwas wie Coaches der »Heroes«. Der 32-jährige Diplompsychologe Mansour ist Palästinenser, der Schauspieler und Theaterpädagoge Atmaca Türke – in Filmen und auf der Bühne, sagt er, sei er »immer der Böse«.

Die jungen Männer von »durchbruch« sind zwischen 15 und 21 Jahre alt, und sie freuen sich auf das Gespräch – sich zu unterhalten und gefilmt zu werden, ist besser, als zu feilen und zu sägen. Außerdem sind sie neugierig: »Helden« stellen sie sich anders vor als Deniz und Coach Mansour. Coach Atmaca lassen sie vielleicht noch als »Helden« durchgehen, er hat in der Fernsehserie »GSG 9« einen harten Typen gespielt. Aber im Grunde, davon sind sie überzeugt, sind »Helden« Männer wie sie. Männer, die sich nichts gefallen lassen, die sich diejenigen, die sie anpöbeln, »greifen«. Gürkan sagt: »Du musst Stärke zeigen. Sonst bist du Opfer.« Sie sind keine Opfer, sondern Männer. Männer, die ihre Ehre verteidigen. Darauf sind sie stolz. Zumindest tun sie so. »Wir wären anders, wenn wir nicht in Kreuzberg oder Neukölln, sondern in Zehlendorf aufgewachsen wären«, räumt Gürkan ein. »Unsere Eltern wussten nicht, dass es in Zehlendorf besser ist. Sie waren ja fremd, als sie herkamen.« Coach Mansour behält für sich, dass die Eltern von Oguzhan, Omar, Ferhat, Askin, Gürkan und Isi, als sie nach Deutschland kamen, gar keine andere Wahl hatten, als nach Kreuzberg oder Neukölln zu ziehen. Das war im Visum festgelegt. Er behält auch für sich, dass man sich heute in der kollektiven Gesellschaft wohlfühlt. Und dass sich Ghettos auch bauen, um zu kontrollieren.

»Was versteht ihr unter Ehre?«, eröffnet Deniz das Gespräch.

Es gibt Situationen, in denen ich die Kollegen vom Fernsehen beneide: Sie haben die Bilder und die Töne.

»Ehre ist Stolz auf die Familie. Wer seine Familie verrät, ist ehrlos.«

»Mädchen verraten die Familie, wenn sie vor der Ehe Sex haben und sich unpassend kleiden.«

»Nein, für Jungen gilt das nicht. Ich und meine Freunde haben das Motto: Man lebt nur einmal! Wir trinken und wir machen Parties.«

»Frauen haben weniger Rechte als Männer.«

»Von einer Frau, die ich heirate, verlange ich viel. Von einer Freundin weniger.«

»Eine Frau, die ich heirate, sollte alles können, was eine richtige Frau kann, auch kochen. Ich kann nicht kochen.«

»Richtige Frauen sind so wie unsere Mütter.«

»Meine Mutter ist früh Mutter geworden, sie hat mich mit 19 gekriegt.«

»Meine Frau muss Jungfrau sein. Ich würde nicht damit klarkommen, eine Schlampe zu heiraten.«

»Mädchen haben es leichter. Sie haben immer Freunde, alle drei Monate einen neuen. Sie können Männer verarschen, verwirren.«

»Frauen können besser lügen. Sie fangen damit schon an, wenn sie drei Jahre alt sind, Jungen erst später.«

»Natürlich dürfen sich Mädchen ihren Mann nicht selbst aussuchen: Eine Mutter kommt zu Besuch, sieht meine Schwester, denkt, die ist für meinen Sohn. Dann werden meine Schwester und ihr Sohn zusammen in ein Zimmer gesetzt, da haben sie zwei Stunden Zeit, sich kennenzulernen.«

»Klar ist das Scheiße, wenn sie ihn nicht liebt. Aber sie können doch vorher quatschen. Die kriegen Süßigkeiten, Obst und Tee, was wollen die noch?«

»Von Ehrenmord habe ich zum ersten Mal hier in Deutschland gehört. Ich kannte den Bruder von Hatum. Von der Moschee her, er war einer der Besten beim Koran lesen.«

»Wenn die Schwester irgendwas gemacht hat, in der Ehe oder vorher, hat sie die Familienehre verletzt. Wenn sie stirbt, ist die Ehre wiederhergestellt.«

»Jeder weiß, man sollte sie nicht töten, sondern leben lassen. Aber wenn meine Schwester einen Freund hat, schlag ich sie kaputt.«

»Meine Schwester hat schon Angst vor mir.«

»Wenn meine Schwester einen Freund hätte, würde ich ihr sagen: Triff dich nicht mehr mit ihm, bis seine Eltern kommen.«

»Es ist nicht so, dass Mädchen gar nicht raus dürfen. Aber nicht jeden Tag, nur ein Mal in der Woche.«

»Wenn meine Schwester unbedingt raus will, gehe ich mit. Oder zehn Meter hinter ihr her.«

»Klar, fühlen Mädchen sich unterdrückt. Es ist aber zu ihrem Besten.«

»Wenn sie sich nicht richtig benehmen, quatschen die Leute. Deshalb müssen wir sie kontrollieren.«

»Was sollen wir denn jetzt machen? Sollen wir sagen: Trefft euch ruhig, und nach zwei Jahren sagt der Mann, er will sie doch nicht? Dann ist sie keine Jungfrau mehr.«

Stimmen aus der männlichen Mitte einer muslimischen Gesellschaft, die sich nicht irgendwo in Anatolien, sondern mitten in Deutschland formierte.

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Ahmad Mansour war »schockiert«, als er nach Deutschland kam und sah, »was hier abgeht: Die Leute verhalten sich noch extremer als in Palästina«. Eine mögliche Erklärung: »Sie haben mehr Angst, ihre Identität zu verlieren.« Mit der Ehre sei es wie mit der Religion, sie sei immer »die letzte Ressource: Wenn man alles verloren hat und ausgegrenzt wird, ist die Ehre das Letzte, was einem bleibt«. Auch Mansour hat in Deutschland Ablehnung erlebt: Mit vielen anderen hat er sich früh um vier vor der Ausländerbehörde angestellt, bei Minusgraden. Um sieben wurde geöffnet. »Wir wurden wie Tiere behandelt, angeschrieen.« Kein Immigrant, dem die Erfahrung, ausgegrenzt zu werden, erspart bleit, auch den »Heroes« nicht. Bilder, die sich Turabi eingebrannt haben: Er wartete nachts an der Haltestelle, der Bus hatte bereits gewendet und stand in der Warteschleife. Da er fror, fragte Turabi, ob er vielleicht schon einsteigen dürfe. Ihm wurde der Zutritt verwehrt, einer älteren deutschen Frau dagegen zuvorkommend die Tür geöffnet. Sicher, der Fahrer wird Angst gehabt haben. »Doch es hat Gründe, wenn junge Muslime auf der Straße ein aggressives Bild abgeben. Sie waren fremd und sind Fremde geblieben.«

Dass die deutsche Gesellschaft sich schwer tut, Immigranten ins Herz zu schließen, ist keine neue Erkenntnis. Auch nicht, dass etwas mächtig schief gelaufen ist bei dem, was man Integration nennt. Wenn die »Heroes« dafür werben, sich zu integrieren, statt darauf zu warten, sich integrieren zu lassen, ist das kein Schritt in die falsche Richtung.

Im Islam, so formulierte Atmaca, hätten Männer und Frauen gleiche Rechte. Davon ausgehend haben die »Heroes« das Gespräch mit den jungen muslimischen Männern bei »durchbruch e.V.« sanft gelenkt: Was müssen wir ändern, um »richtig islamisch« zu leben? Ist es nicht furchtbar anstrengend, ständig für die Schwester verantwortlich zu sein? Könnten die Jungen sich vorstellen, ihren Schwestern zu vertrauen und dafür von ihnen geliebt zu werden? Muss ein Mädchen, das man liebt, denn unbedingt noch Jungfrau sein? Kann eine gebildete Ehefrau künftigen Kindern nicht mehr vermitteln als eine ungebildete? Ob es nicht von Vorteil wäre, wenn Frauen einer Arbeit nachgingen und Männer ihre Familien nicht mehr allein ernähren müssten? Ist es nicht letztlich die eigene Leistung, die einem zur Ehre gereicht?

Mehr als ein Samenkorn Nachdenklichkeit können die »Heroes« nicht legen. Wie es aussieht, ist das eine Menge.

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