• Politik
  • Vielen Hartz IV-Betroffenen fehlt das Geld für eine ausgewogene Ernährung

»Erhebliche gesundheitliche Störungen«

Martin Behrsing vom ErwerbslosenForum über die Kampagne gegen Mangelernährung bei Hartz IV

  • Lesedauer: 4 Min.

ND: Sie sind Mitglied in einem Bündnis, das am vergangenen Montag eine »Kampagne gegen Mangelernährung bei Hartz IV« gestartet hat. Sind die Betroffenen wirklich mangelernährt?
Behrsing: Der derzeitige Regelsatz beträgt 359 Euro für einen Single. Darin ist ein täglicher Betrag zum Essen in Höhe von 3,94 Euro vorgesehen. Wenn man sich gesund ernähren will, was ja eigentlich der Normalfall sein sollte, dann kann man mit diesen 3,94 Euro einen täglichen Bedarf von 1580 Kilokalorien zu sich nehmen. Ein erwachsener Mensch benötigt aber etwa 2550 Kilokalorien. Das heißt, spätestens am 20. eines Monats müsste man das Essen einstellen, weil das Geld alle ist. Die meisten geben so den Teil ihres Regelsatzes, der eigentlich für Bekleidung, Kultur oder Transport vorgesehen ist, fürs Essen aus. Somit geraten diese Menschen in eine noch größere gesellschaftliche Isolation.

Ist Mangelernährung von Hartz IV-Empfängern wissenschaftlich belegt?
Ja, es gibt Studien von Berliner Kinderärzten, die feststellen mussten, dass Kinder aus Hartz IV-Familien erhebliche gesundheitliche Störungen aufweisen, die sich auch auf das Verhalten auswirken. So fördert falsche, also billige Nahrung aggressives Verhalten. Untersuchungen der Universitäten Bonn und Dortmund aus dem Jahre 2007 belegen, dass Hartz IV allenfalls für Billigstfraß reicht. Somit werden bereits in der frühkindlichen Entwicklung die Weichen gestellt. Wer nicht vernünftig isst, kann auch nicht vernünftig lernen.

Wie hoch müsste der Regelsatz sein, damit sich ein Hartz IV-Betroffener gesund ernähren könnte?
Also, um sich gesund zu ernähren und um Teilhabe an der Gesellschaft zu haben, sollten es schon mindestens 500 Euro sein. Für diesen Betrag setzt sich auch unsere Kampagne ein. Wobei man sagen muss, dass man mit 500 Euro wahrlich keine großen Sprünge machen kann. Aber so wäre zumindest gewährleistet, dass Menschen sich ausreichend ernähren können.

Nun hört man immer wieder das Argument, bei einem Hartz IV-Regelsatz von 500 Euro sei der Lohnabstand nicht mehr groß genug. Der Unterschied zwischen niedrigen Erwerbseinkommen und Sozialhilfe wäre zu gering. Deshalb fehle den Menschen die Motivation, eine Arbeit aufzunehmen.
Diese Diskussion ist Anfang der 90er Jahre aufgekommen. Vorher war das nie ein Thema. Dann brachten die Arbeitgeber dieses Unwort »Lohnabstand« in die Debatte. Aber das Problem stellt sich nicht auf der Seite der Sozialausgaben. Wenn die Arbeitgeber so niedrige Löhne zahlen, dass sie nur unwesentlich über dem Hartz IV-Leistungen liegen, ist das doch nicht die Schuld der Arbeitslosen. Einige verdienen ja weniger, als ihnen nach Hartz IV zustehen würde! Die müssen ihr Gehalt vom Amt aufstocken lassen. Hier hat die Politik versagt, indem sie nicht dafür gesorgt hat, dass Menschen, die bei uns arbeiten, ohne Sozialleistungen auskommen können.

Seit einer Woche ist Ihre Kampagne gegen Mangelernährung nun aktiv. Wie wollen Sie die Bürger erreichen?
Wir planen bundesweite Unterschriftenaktionen, um unseren Forderungen nach einer Regelsatzerhöhung auf 500 Euro Gewicht zu verleihen. Wer uns verpasst, kann auch im Internet für eine Regelsatzerhöhung unterschreiben. Auf unser Webseite www.500-euro-eckregelsatz.de kann man online unterzeichnen oder Unterschriftenlisten bestellen.

Menschen, die uns tatkräftig unterstützen wollen, können sich die Listen auch ausdrucken und selbstständig Unterschriften sammeln. Bei uns gibt es auch die entsprechenden Flugblätter. Wir werden dafür sorgen, dass Unterstützern, die Flugblätter verteilen wollen, allenfalls die Portokosten entstehen.

Im Zuge Ihrer Kampagne wurden auch sämtliche Bundestagsabgeordneten angeschrieben und um Unterstützung gebeten. Gab es bereits Reaktionen?
Ja, zahlreiche Abgeordnete der Grünen haben reagiert, aber ohne auf unsere Fragen einzugehen. Stattdessen haben wir den Eindruck, dass alle Abgeordneten dasselbe Schreiben verschicken. Sie stellen uns eigentlich ihr Wahlkampfprogramm vor und propagieren eine Eckregelsatzerhöhung auf 420 Euro und einen Mindestlohn von 7,50 Euro. Wir haben ihnen die Frage gestellt, ob sie sich vorstellen können, mit 359 Euro im Monat auszukommen. Dazu haben sie sich nicht geäußert. Auf der anderen Seite antworteten auch viele Abgeordnete der Linkspartei. Sie schrieben, dass sie unsere Forderungen unterstützen. Die LINKE fordert ja ebenso wie wir eine Regelsatzerhöhung auf 500 Euro.

Wer unterstützt Ihre Kampagne?
Dazu gehören das Aktionsbündnis Sozialprotest, das ErwerbslosenForum, aber auch Klartext e.V., das Rhein-Main-Bündnis, Soziale Bewegung Brandenburg und der Wuppertaler Sozialhilfeverein Tacheles. Unterstützung kommt auch vom renommierten Sozialwissenschaftler Rainer Roth und einigen Bundestagsabgeordneten, wie Ulla Jelpke oder Inge Höger von der Linkspartei, die von Anfang an mit dabei waren. Aber die Kampagne läuft erst seit einer Woche, deshalb sind wir zuversichtlich, dass sich noch weitere Unterstützer finden.

Fragen: Fabian Lambeck

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