Sonderbares Land

Dirk Vaihinger auf »Schweizerreise«

  • Benjamin Jakob
  • Lesedauer: 3 Min.

Seit 1999 gehört das Haus Nagel & Kimche – inzwischen 25 Jahre alt – zum Münchner Carl Hanser Verlag, doch die eidgenössischen Wurzeln will man betonen. Vor ein paar Jahren hat Verlagsleiter Dirk Vaihinger deshalb »Die schönsten Gedichte der Schweiz« herausgegeben. Nun publizierte er Geschichten, Reiseberichte besonderer Art: 25 Prosatexte aus den rund 25 Kantonen, entstanden in den vergangenen 25 Jahren.

Die Tour geht durch ein kleines, großes sonderbares Land – durch Bergdörfer und Talschaften, durch die archaische und die moderne Eidgenossenschaft, durch weltoffene Orte und tiefe Provinz. Eine »föderale Parzellensammlung« (Vaihinger) ist zu besichtigen; hin und wieder, natürlich, atmet man »Kantönligeist«. (»Der Kanton«, so schreibt treffend der Herausgeber, »ist wohl nicht die Keimzelle, aber das Bauelement der Schweiz.«)

Der Reisende schaut auf Gipfel, in Schluchten, und, ja, ein paarmal überwindet er sogar den Röstigraben, jene Sprachbarriere, die die Deutschschweiz so zuverlässig vom Rest des Landes trennt. Ein PR-Satz der Tourismusbranche, von Dirk Vaihinger zitiert, könnte als Leitgedanke über dem Buch stehen: »Die Schweiz vereint auf kleiner Fläche eine unvergleichliche Fülle von Diskrepanzen und Besonderheiten.«

Ohne eine ordnende Hand bekommen Anthologien leicht etwas Willkürliches, Beliebiges. Und so ordnete Vaihinger die bunte Mischung: Er wählte Texte aus den Heimat- oder Wohnkantonen der Verfasser, von A wie Aargau bis Z wie Zürich. Helen Meier (Appenzell, Jahrgang 1929) und Peter Stamm (Thurgau, geboren 1963) erzählen von Schwimmausflügen mit tragischem Ende. Lukas Bärfuss (Bern) und Erwin Koch (Luzern) melden sich aus familiären Abgründen. Emil Zopfi (Glarus) klettert im Alpsteinmassiv an biographischen Steilwänden. Marie-Claire Dewarrat (Fribourg) beschreibt eine Totenwache für eine ungeliebte, weil geizige Alte. Silvio Huonder (Graubünden) erinnert sich beim Klang von Pink Floyd an eine Teenie-Liebschaft. Gertrud Leutenegger (Schwyz) erhält »eine Million Rosen aus Odessa«. Der Zuger Thomas Hürlimann unternimmt eine »Schweizerreise in einem Ford«. Maurice Chappaz wandert durch das Wallis »auf einem Pfad, mehr denn tausend Fuß über der Rhone«. Auch Ruth Schweikert, Peter Bichsel, Charles Lewinsky erkunden verborgene Winkel. Und Peter Weber (St. Gallen) besichtigt des Schweizers liebste große Stadt: Berlin.

Zwei Beiträge sind Auskopplungen aus längeren Arbeiten. Fast alle Texte – dies wäre ein Manko der Sammlung – erschienen bereits in anderen Publikationen (nur wenige allerdings bei Nagel & Kimche). Ein Kritiker der »Welt« sah im Buch den Versuch, »um Verständnis für die bisweilen befremdlich anmutende Kultur und Lebensart des Kleinststaates zu werben«. Aber das ist Unsinn. Eine »narrative Landkarte« wollte der Herausgeber abbilden, »die literarische Topographie eines geschichtenträchtigen Landes«. Das hat er geschafft. Vaihingers »Lesebuch der helvetischen Konföderation« ist so unterhaltsam, wie man es erwarten durfte. Und was besonders erfreut: Neben Fingerübungen, Impressionen, Schwänken finden sich belletristische Perlen.

Auf dem Schutzumschlag der Anthologie pflügt ein Ozeandampfer durch Grasland, wohl am Vierwaldstättersee; man sieht Buchten, Berge, Kühe flüchten irritiert. Ein schönes Bild – für den Mut mancher Autoren, »Kantönligeist« und Gattungsgrenzen schlicht zu ignorieren.

Dirk Vaihinger (Hg.): Die Schweizerreise. Erzählungen aus den Kantonen. Verlag Nagel & Kimche. 224 S., geb., 17,90 €.

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