Geschichte, neu formuliert

Wie klingt Dekolonialisierung? Das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin widmet sich der Afrodiaspora

  • Berthold Seliger
  • Lesedauer: 6 Min.
Jegliche Vertrautheit entpuppt sich als akustische Täuschung: Dalia Stasevska digirigiert die »Negro Folk Symphony«
Jegliche Vertrautheit entpuppt sich als akustische Täuschung: Dalia Stasevska digirigiert die »Negro Folk Symphony«

Musikalisch sind die Schwarzen im Allgemeinen begabter als die Weißen, was ihr Gehör für Melodie und Rhythmus angeht, und es hat sich gezeigt, dass sie in der Lage sind, sich eine kleine Melodie vorzustellen. Ob sie auch in der Lage sind, eine umfangreichere Melodie oder komplizierte Harmonien zu komponieren, muss sich erst noch zeigen.« Das schrieb der Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und spätere dritte US-Präsident Thomas Jefferson 1785 in seinem Buch »Notes on the State of Virginia« und setzte damit den Ton für die folgende jahrhundertelange systematische kulturelle und ethnische Unterdrückung, ja sogar Auslöschung afroamerikanischer Musik in den USA.

Beim jüngsten Konzert des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin (DSO) kam die in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts entstandene – vom Urheber zeittypisch so betitelte – »Negro Folk Symphony« des afroamerikanischen Komponisten William L. Dawson zur Aufführung. Doch wenn man dem Komponisten dieser faszinierenden Sinfonie attestiert, sehr wohl »umfangreichere Melodien« oder »komplizierte Harmonien« zu beherrschen, ja sogar äußerst eindrucksvoll und mitreißend eine »amerikanische Sinfonik« zu entwickeln, dann tappt man bereits in die Falle des ästhetischen Regimes »westlicher« klassischer Musik.

Der Komponist, Musikwissenschaftler und Posaunist George E. Lewis hat auf einem vom DSO organisierten Symposium zur »Afrodiaspora« in seiner Keynote zur Frage der »Dekolonialisierung des Orchesters« am Nachmittag vor dem Konzert darauf hingewiesen, dass wir uns mit der Konstruktion von Kultur in der Moderne immer wieder aufs Neue auseinandersetzen müssen: »Wie können wir klassische Musik nachhaltig dekolonialisieren?« Dazu gehört für den Professor an der renommierten Columbia University, »kulturelle Unterdrückung und Auslöschung zu identifizieren, zu konfrontieren und zu bekämpfen sowie ungehörte Stimmen und Wissensformen in den Vordergrund zu rücken«.

Diese Musik ist keine Folklore.

Wie also klingt Dekolonialisierung? Die 1934 von Leopold Stokowski und dem Philadelphia Orchestra uraufgeführte »Negro Folk Symphony« verbindet »die melodische Erfindungskraft afroamerikanischer religiöser Volkslieder mit der Klangsprache der europäischen Spätromantik zu einer Musik, die beide Sphären verwandelt und in eine neue Ausdrucksordnung überführt«, so der Musikwissenschaftler und Saxofonist Harald Kisiedu in seinem Einführungsvortrag in der Philharmonie. (Eine gute Idee, selten gespielte Werke vor ihrer Aufführung kompetent vorzustellen!)

Dawson zitiert und überarbeitet afroamerikanische Volkslieder (er zog diesen Begriff dem der »Spirituals« vor), wobei er vor allem Gesten dieser Songs verwendet, so bereits im einleitenden elegischen Hornsolo mit seinen Blue Notes. Der erste Satz trägt den Titel »The Bond of Africa«, womit Dawson auf das »fehlende Band«, jenes unterbrochene Glied in der menschlichen Kette hinweist, das »herausgenommen wurde, als der erste Afrikaner von den Küsten seines Heimatlandes fortgenommen und in die Sklaverei geschickt wurde«. Es entsteht ein »Geflecht kollektiver Erinnerung, das sich im Verlauf der drei Sätze in wechselnden Farben, Rhythmen und Motiven entfaltet« (Kisiedu). Einzigartig der 2. Satz »Hope in the Night«, eine expressive Klage des Englischhorns, die von den Hörnern und anderen Blasinstrumenten aufgenommen wird. Am Ende ein mehrfaches zauberhaftes Aufleuchten und Verklingen des gesamten Orchesters samt Pauken- und Perkussionklängen, das man so kaum je gehört hat.

Dawson geht es nicht darum, Brüche zu tilgen, er komponiert keine romantisierende Rückschau fehlender Klänge, um den »white man’s guilt trip« (so der Komponist Sandeep Bhagwati) zu befeuern, der auf dem Symposium benannt wurde. Dawson macht im Gegenteil die Brüche hörbar als Resonanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Afrika und Nordamerika. Dass das für unsere Ohren 100 Jahre nach der Komposition durchaus auch »angenehm« und in Teilen »vertraut« klingt, ist nachvollziehbar, aber genau genommen eine akustische Täuschung. Denn diese Musik ist eben keine Folklore, keine spätromantisch-moderne Komposition mit ein paar eingebauten Spritual-Elementen. Sie ist eine Konstruktion, in der Verschiedenes in produktive Beziehung zueinander gebracht wird. Dies gilt erst recht für die vom DSO unter der großartigen finnisch-ukrainischen Dirigentin Dalia Stasevska aufgeführte revidierte Fassung, die Dawson nach einer Reise durch mehrere westafrikanische Länder 1952/53 angefertigt hat. Die komplexen rhythmischen Schichtungen, die er in Westafrika kennenlernte, regten ihn zu einer Überarbeitung vor allem der rhythmischen Gestaltung seiner Sinfonie an.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

So blickt »Negro Folk Symphony« gleichzeitig auf die musikalischen Ausdrucksformen afroamerikanischer Communitys und öffnet einen Raum, in dem die Geschichte neu formuliert wird. Für die umjubelte Uraufführung 1934 wie für die begeisternde Berliner Aufführung 2025 gilt, was Dawson als »das schönste Kompliment« bezeichnet hat, das seiner Sinfonie gemacht werden kann: »Dass sie unverkennbar nicht das Werk eines weißen Mannes ist. Ich möchte, dass das Publikum sagt, nur ein Schwarzer hätte das schreiben können.«

Das DSO hat sich in der aktuellen Saison den Schwerpunkt »Afrodiaspora – Composing While Black« gesetzt: In jedem seiner Konzerte soll mindestens ein Werk der afrodiasporischen Klangwelten aus vier Jahrhunderten zur Aufführung kommen. Ein wichtiges Unterfangen, das aber vor allem auch einer großen Nachhaltigkeit bedarf. So forderte George E. Lewis auf dem Symposium sehr zu Recht, dass Kurator*innen, Ensembles, Medien, Wissenschaftler*innen und kulturelle Institutionen kontinuierlich dem Publikum helfen müssen, zu entdecken, wie Dekolonisierung klingt. Weg von der »institutionalisierten Whiteness«, hin zur (sozusagen wechselseitigen) »Kreolisierung« des Musiklebens. Musiker*innen und Komponist*innen of color müssen in den Konzertsälen zur Selbstverständlichkeit werden (wie es beim Berliner Pierre-Boulez-Saal bereits der Fall ist). Vielleicht auch durch verpflichtende Quotierungen. Und nebenbei sei angemerkt, dass es auch wichtig ist, wenn people of color vermehrt in den Zuschauerräumen der Konzertsäle anzutreffen wären, was sicherlich weiterer Anstrengungen jenseits von akademischen Symposien bedarf.

Dass die Saison-Schwerpunkte des DSO verfangen, zeigte sich in der ersten Konzerthälfte. Nach einer mitreißenden, sehr jazzaffinen Interpretation von Ravels »Bolero« (der auch bereits bei der Uraufführung von Dawsons Werk auf dem Programm stand), bei dem sich die Bläsersolist*innen des DSO auszeichnen konnten, war das 2022 entstandene »Glasslands« für Sopransaxofon und Orchester der britischen Komponistin Anna Clyne auf dem Programm – sicher auch Ergebnis des DSO-Saisonschwerpunkts des Vorjahres, mehr Kompositionen von Frauen auf die Bühne zu bringen. »Glasslands« ist ein Werk, in dem die Banshee herrscht, ein weiblicher Geist, der in der irischen Folklore durch Wehklagen und Schreie den Tod eines Familienmitglieds ankündigt.

Gleich zu Beginn setzt das Sopransaxofon den Ton: schneidende, schrille Höhen fordern das Publikum und reißen es aus der Ravel’schen Bolero-Soundhöhle heraus. Es ist schier unglaublich, welche Nuancen, Klangfarben, irrsinnigen Läufe die junge Solistin Jess Gillam aus ihrem Instrument zaubert. Sie bewegt sich zielsicher zwischen den drei Tonwelten, die Clyne zur Verfügung stellt: eine lichtdurchflutete, anheimelnde Landschaft, eine dunkle, unheimliche Sphäre und ein Bereich, in dem Klang und Stille in unvorhersehbarer Wechselwirkung stehen. Die umjubelte Teufelssaxofonistin Jess Gillam nimmt die Vibrafon-Schlangen, die ihr zugespielt werden, mühelos auf und entwickelt sie weiter. Sie nimmt die Streicher auf diverse wilde Hummelflüge mit und kontrolliert als Banshee jederzeit alle Abläufe.

Ein mutiges Programm, ein hervorragendes Orchester, eine faszinierende Dirigentin – eines der Konzerte des Jahres. Beim Hinausgehen wünscht man sich mehr Saxofon, vor allem aber mehr afrodiasporische Werke in den »klassischen« Konzertprogrammen. Der Skandal, dass dem Publikum so viele Jahrzehnte Dawsons »Negro Folk Symphony« vorenthalten wurde, darf sich nicht fortsetzen.

Wir haben einen Preis. Aber keinen Gewinn.

Die »nd.Genossenschaft« gehört den Menschen, die sie ermöglichen: unseren Leser*innen und Autor*innen. Sie sind es, die mit ihrem Beitrag linken Journalismus für alle sichern: ohne Gewinnmaximierung, Medienkonzern oder Tech-Milliardär.

Dank Ihrer Unterstützung können wir:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ Themen sichtbar machen, die sonst untergehen
→ Stimmen Gehör verschaffen, die oft überhört werden
→ Desinformation Fakten entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und vertiefen

Jetzt »Freiwillig zahlen« und die Finanzierung unserer solidarischen Zeitung unterstützen. Damit nd.bleibt.