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Eine Frage der Potenz
Das Berliner Musiktheaterkollektiv Nico and the Navigators hat sich Heiner Müllers »Quartett« vorgenommen
»Zeitraum: Salon vor der Französischen Revolution / Bunker nach dem dritten Weltkrieg.« Diese Anweisung hat Heiner Müller seinem Stück »Quartett« nach Choderlos de Laclos’ Roman »Gefährliche Liebschaften« vorangestellt. Es ist ein Zwei-Personen-Drama zwischen den Liebenden Marquise de Merteuil und Vicomte de Valmont. Liebende? Ehemals Liebende, wenn überhaupt. Denn Liebe muss eigentlich heißen: Sex. Und die beiden tragen ihren Kampf mit scharfen Worten aus. Rücksichtslos, brutal, mit Lust an der Verletzung.
Wohin führt das sadistische Spiel an diesem Abend im Berliner Radialsystem? Nicola Hümpel, der regieführende Kopf hinter der Musiktheaterkompanie Nico and the Navigators, hat den Stoff mit verschiedenen Mitteln potenziert und nennt ihn deshalb »Quartett zum Quadrat«.
Während Annedore Kleist und Martin Clausen sich schauspielerisch des Müller’schen Textes annehmen, vertonen Martin Buczko und Yui Kawaguchi (sehr eindrucksvoll!) das Geschehen. Das Kuss Quartett bringt zudem Streicherwerke von Leoš Janáček zu Gehör, die das Ganze musikalisch illustrieren sollen.
Leider ist diese – mehrfache – Verdopplung wenig hilfreich, tritt sie doch, mit verschiedenen Mitteln, auf der Stelle. Die Künste treten nicht in Konfrontation miteinander, sondern verhandeln sie nur inhaltlich. Das ist eine verschenkte Möglichkeit und kostet das Publikum letztlich viel Zeit.
Potenziert wird aber noch auf einer anderen Ebene: Ausgehend von John Henry Peppers Erfindung aus dem vorletzten Jahrhundert, bei der durch einen schräg aufgestellten, halbtransparenten Spiegel die Illusion geschaffen wird, ein gespiegelter Körper stünde unmittelbar im Raum, steht auf der Bühne des Radialsystems eine übergroße entsprechende Vorrichtung.
Die Darsteller werden beim Spiel live gefilmt und so sind eindrucksvolle Mehrfachprojektionen zu sehen. Hümpel zeigt nicht nur den lustvollen Sadismus der Figuren, sondern auch die Lust am Zusehen und am Verbreiten der Grausamkeit. Das ist eine überzeugende Idee, nur trägt sie kaum über eine Szene, gewiss nicht über einen ganzen Theaterabend.
Vieles scheint in dieser Inszenierung gut gemeint und vielleicht sogar gut gedacht zu sein, aber es löst sich nicht ein. Die Idee der Quadratur nimmt sich auf der Bühne so papiern aus, wie sie klingt. Das Kostümbild lebt von Klischees allein, und das ist doch zu wenig. Von einem dritten Weltkrieg ist hier nichts zu ahnen. Dabei taucht der in den Albträumen vieler Menschen häufiger auf, als es vor ein paar Jahren nur denkbar war.
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