Trendwende in Delhis Geburtenstatistik

Indiens Hauptstadt hat es offenbar geschafft, die Abtreibung weiblicher Föten zurückzudrängen

  • Thomas Berger
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Gründe mögen vielfältig sein, doch in erster Linie zählt der Fakt: In Delhi sind voriges Jahr deutlich mehr Mädchen zur Welt gekommen als 2007. Erstmals überhaupt seit Einführung der Registrierungspflicht 1969 hat sich bei den erfassten Geburten das Geschlechterverhältnis sogar gedreht.

»Indiens verschwundene Töchter« war eine Studie von Wissenschaftlern der Universität Toronto betitelt, die 2006 die indische Bevölkerung aufschreckte. Darin kamen die Verfasser zu dem Schluss, dass über den Zeitraum von zwei Jahrzehnten schätzungsweise zehn Millionen weibliche Föten gezielt abgetrieben wurden. Gerade der Einzug moderner Technik mit Geschlechtsbestimmung schon vor der Geburt hatte die Problemlage verschärft. Obgleich es bei Strafe verboten ist, werden bis heute in vielen Privatkliniken solche gezielten Ultraschalluntersuchungen vorgenommen, die oft zu einem Schwangerschaftsabbruch führen, wenn es sich um einen weiblichen Fötus handelt.

In Delhi ist es nun gelungen, die Abtreibung weiblicher Föten stark zurückzudrängen. Gemeinsam mit den Unionsstaaten Haryana und Punjab war die Hauptstadt bisher immer ein besonderer Problemfall gewesen, wo das Geschlechterverhältnis sogar noch stärker zuungunsten der Frauen lag als im Landesdurchschnitt. Indienweit hatte es beim letzten Zensus 2001 immerhin erste Hoffnungssignale auf ein Umdenken gegeben. Von zuvor 927 Frauen auf 1000 Männer stieg die Zahl leicht auf 933 an. Allerdings lag sie in Delhi bei nur 905.

Als kleine Revolution wird nun das gewertet, was die jüngsten Daten des Chefregistrars aus der Planungsverwaltung der Regionalregierung Delhis vermitteln. 19 000 Mädchen mehr als noch 2007 sind voriges Jahr in der drittgrößten Metropole des Landes geboren worden, insgesamt 167 000. Umgerechnet auf das Geschlechterverhältnis, liegen bei den Geburten 2008 nun sogar knapp die Mädchen vorn – 1004 kamen auf 1000 Jungen. In den zwölf Monaten zuvor waren es nur 948 gewesen. Vorsichtiger Optimismus macht sich breit, dass dies die lang ersehnte Trendwende darstellen könnte. »Delhi setzt ein Beispiel«, so Sandhya Bajaj von der Nationalen Kommission für den Schutz der Kinderrechte.

Allerdings müssen die Ursachen für die positiven Zahlen noch genau ausgewertet werden, ehe eindeutige Aussagen möglich sind. In ersten Bewertungen wurde auf einen Mix mehrerer Gründe verwiesen. Vermutlich habe das Zusammenwirken von Verbot der Ultraschall-Geschlechtsbestimmung, Aufklärungskampagnen und finanziellen Anreizen den Umschwung bewirkt. »Es ist ein erster Erfolg unseres Wirkens«, sagte Dr. Dharm Prakash von der Indian Medical Association, die vor allem Ärzte agitiert, keine illegalen Ultraschalls mehr vorzunehmen. Zahlreiche Frauenverbände und andere Organisationen sind zudem neben regierungsamtlichen Vertretern unablässig aktiv, die Einwohner von ihrer Besessenheit hinsichtlich männlichen Nachwuchses abzubringen. Diese ist bei der Hindu-Mehrheit besonders ausgeprägt. »Mögest du die Mutter von 100 Söhnen sein«, diesen Segenswunsch bekommen Bräute zur Hochzeit noch immer oft zu hören, denn nur Söhne dürfen zum Beispiel beim Tod der Eltern den Scheiterhaufen in Brand setzen. »Ein Sohn ist eigener, eine Tochter fremder Reichtum«, lautet mit Verweis auf die spätere Mitgift ein anderes Sprichwort.

Wenigstens teilweise darf sich auch Sheila Dikshit, die Chefministerin von Delhi, die neuen Zahlen als Erfolg ihrer Bemühungen anrechnen. Denn ihre Regierung war es, die ein ausgeklügeltes Förderprogramm aufgelegt hat, um Eltern das Aufziehen von Töchtern zu erleichtern. Seit März 2008 gibt es 10 000 Rupien (160 Euro) im Namen des Mädchens auf ein Treuhandkonto bei dessen Geburt, und mit der Einschulung kommen ebenso 5000 Rupien dazu wie mit der 6., 9., 10. und 12. Klasse. Die Summe, die mit dem 18. Lebensjahr eingelöst werden kann, ist damit auch Lockmittel, die Töchter wie deren Brüder zur Schule zu schicken und nicht schon ab Klassenstufe sechs von weiterer Bildung fernzuhalten. Dieses Anreizsystem könnte nun Nachahmer finden.

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