Selbstherrlich und frech

Hans Herbert von Arnim über Volksparteien ohne Volk

Freiheit und Unmittelbarkeit der Wahl? Fehlanzeige, konstatiert Hans Herbert von Arnim. »Zur Wahl gehen gilt immer noch als staatsbürgerliche Pflicht Nummer eins. Doch um die Rechte des Bürgers ist es schlecht bestellt. Die Parteien treffen fast alle wichtigen Entscheidungen ganz allein – vor und nach den Wahlen, auch wenn darüber offiziell wenig gesprochen wird.«

Es beginnt damit, dass der Wähler durch starre Wahllisten entmündigt wird. Dem Souverän wird vorgegaukelt, er hätte zumindest mit der Erststimme einen Einfluss darauf, wer ins Parlament kommt und wer nicht. Doch das bestimmen die Parteifunktionäre. Die Allmacht der Parteien bedingt die Ohnmacht der Bürger. Und das erkennen diese zunehmend. In zweistelligen Prozentzahlen kündigt das Volk den sogenannten Volksparteien die Gefolgschaft auf: Wahlverweigerung, Protestwahl, Mitgliederschwund. Schuld ist die Parteienkaste selbst.

Arnim fordert eine rückhaltlose öffentliche Diskussion über Machtmissbrauch, Lobbyismus, Bürokratismus und Korruption. Der renommierte Rechts- und Wirtschaftswissenschaftler, Autor mehrerer Bestseller (»Staat ohne Diener«, »Fetter Bauch regiert nicht gern«, »Die Deutschlandakte«) plädiert für Reformen, nicht nur des Wahlrechts. Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus sei der westlichen Demokratie der Widerpart abhanden gekommen: »Jetzt wurden ihre Mängel unbefangener unter die Lupe genommen.« Vom Souverän Volk.

Ein großes Dilemma sieht Arnim darin, dass die »Volksparteien« in ihrem Kampf um die Mitte immer ähnlicher werden und die Wähler immer ratloser. Eine Reihe von institutionellen Eigenheiten des bundesrepublikanischen Systems erleichtere dies, vermindere den politischen Wettbewerb und führe zur Bildung politischer Kartelle. Statt ernsthaft die Ursachen für die Verdrossenheit der Bürger zu analysieren, reagieren die Parteien mit stärkerer Abschottung und Missachtung von Volkes Wille. »Der Politikverdrossenheit der Bürger entspricht die Verdrossenheit beleidigter Politiker über die Bürger.«

Politiker sind laut Verfassung an das Gemeinwohl gebunden. Sie selbst betonen gebetsmühlenartig, vor allem in Wahlkampfzeiten, dass sie nur gemeinwohlkonform denken und agieren. Doch was heißt »Gemeinwohl«? Darin steckt ein Grundproblem. Die Gesellschaft basiert auf Interessenkollision. Politik hat eine befriedende Funktion zu erfüllen, muss sich um Interessenausgleich bemühen und nach einer angemessenen, allseits befriedigenden Ordnung streben – wenigstens annäherungsweise. Doch davon kann man nur träumen, wenn Berufspolitiker über die Regeln der Macht entscheiden, wie dies in Deutschland der Fall ist. Die Verfassung räumt ihnen zu große Rechte, besser: Privilegien ein. »Sie sitzen an den Schalthebeln und beherrschen in Parlamenten und Regierungen die Gesetzgebung und die öffentlichen Haushalte, können sogar die Verfassung ändern, die sie binden soll«, beklagt Arnim

Die Abgeordneten entscheiden selbstherrlich in eigener Sache, erhöhen ihre Bezüge und ihre staatsfinanzierte Altersversorgung, ohne das Volk zu fragen. Ebenso großzügig sind sie bei der Bereitstellung der staatlichen Mittel für ihre Mitarbeiter. Parlamentarische Staatssekretäre sind so hoch bezahlt wie überflüssig. »Sind geradezu der Inbegriff der politischen Klasse nach üppig besoldeten Ämtern ohne große Anforderung und Verantwortung. Jede Partei der derzeitigen Großen Koalition stellt 15 Staatssekretäre.« Auch in seinem neuem Buch reitet Arnim sein Steckenpferd: die Doppelalimentation. Minister begnügen sich nicht mit den ihnen amtsmäßig zugeschanzten Bezügen, sondern kassieren als Parlamentsmitglieder auch noch Abgeordnetengelder. Das ist wahrlich frech. Dass dafür Arbeitslose und Hartz-IV-Betroffene kein Verständnis aufbringen können, dürfte verständlich sein.

Das Eigeninteresse der Parteien zeige sich besonders deutlich bei der Wahlgesetzgebung, registriert Arnim. »Die Regierungsmehrheit ist versucht, das Wahlrecht zur Sicherung des eigenen Machterhalts und damit auf Kosten der parlamentarischen Opposition zu manipulieren.« Das zeigt sich gerade dieser Tage im Streit um Überhangmandate, die Arnim einen »groben Systemfehler« des deutschen Wahlrechts nennt, der eigentlich längst abgeschafft gehört hätte. »Aber auch Ausgleichsmandate sind keine gute Lösung, sie führen vielmehr vom Regen in die Traufe. Mit ihnen beseitigt man zwar die Verzerrung zwischen den Parteien, bläht die ohnehin zu großen Parlamente aber noch weiter auf, schafft also eine Verzerrung zu Lasten der Bürger und Steuerzahler.«

In einem speziellen Kapitel geht Arnim auf den Erfolg der LINKEN ein. »Sie nimmt sich der Arbeitslosen, der schulisch und beruflich gering Qualifizierten und der um ihren Arbeitsplatz Bangenden an, ihr Kern-Klientel sind das ›abge- hängte Prekariat‹ und die bedrohte ›Arbeitnehmer-Mitte‹, die sich von der SPD vernachlässigt glauben.« Die LINKE sei aber keineswegs nur eine »Unterschichtenpartei«, sondern feiere auch bei den Eliten Erfolge. Arnim selbst findet an ihr Eintreten für Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundes- und Europa-Ebene sympathisch. Ins Stammbuch schreibt er der LINKEN aber auch: »Die größte Gefahr für die weitere Entwicklung der Linken dürfte paradoxerweise ihr Erfolg sein. Wohlfeile Proteste und blumige Versprechen, die Wähler mobilisieren, werden in der Regierungsverantwortung ziemlich rasch auf den Boden der ökonomischen Möglichkeiten zurückgeführt.« In der Tat, so geschehen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin. Mit nicht wenigen schmerzhaften Blessuren.

Hans Herbert von Arnim: Volksparteien ohne Volk. Das Versagen der Politik. C. Bertelsmann, München 2009. 400 S., geb., 19,95 €.

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