Gelber Fluss und grüne Katze

Was denkt China? – Das fragte sich Mark Leonhard und erkundigte sich

  • Lutz Pohle
  • Lesedauer: 5 Min.

Würde man fragen, »Was denkt Deutschland?«, wäre mindestens eine mehrbändige Sammelausgabe fällig. Im Fall Chinas will der Autor oder sein Verlag oder beide zusammen die Frage auf knapp 200 Seiten lösen. Darin liegt das Problem des ansonsten sehr verständlich und anschaulich, fachkundig und unterhaltsam geschriebenen Buches.

Mark Leonhard, der sich selbst als »Zufallssinologe« beschreibt, streift im Highspeed-Internet-Tempo alle gesellschaftlichen Bereiche. Innenpolitik, die Ökonomie und die Ökologie, Demokratie, Nationalismus und die Außenpolitik – alles wird behandelt, immer wieder aktuell, anschaulich und in griffigen Bildern dargestellt und mit Beispielen belegt. Am stärksten wird das Buch immer da, wo es mit einprägsamen Geschichten in die chinesische Wirklichkeit geht und damit die Unterschiede zum westlichen Denken herausarbeitet. Etwa bei der Allegorie vom Zebra-Dorf, die exemplarisch das Denken und die Veränderungen im Lande abbildet.

Leonhard zitiert den in China sehr bekannten Ökonomen Zhang Weiying mit der Geschichte von dem Dorf, dessen Bauern immer mit Pferden gearbeitet haben und die nun plötzlich Zebras nutzen sollen. Um ihr Vorhaben umzusetzen, streichen die Dorfältesten, die jahrzehntelang die Vorteile der Pferde propagiert haben, jede Nacht heimlich ein Pferd mit einigen Zebra-Streifen an. Um so mehr sich die Dorfbewohner an den Anblick der gestreiften Pferde gewöhnt haben, je mehr Pferde tauschen die Funktionäre des Dorfes durch Zebras aus, bis schließlich das ganze Dorf ganz selbstverständlich mit Zebras arbeitet.

Nach diesem Muster ist in den 80er und 90er Jahren in China das planwirtschaftliche geprägte System auf die Marktwirtschaft umgestellt worden. Nach Zhang und Leonhard konnte China so seine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte schreiben, ohne die Grundlagen des politischen Systems anzutasten. Ähnlich anschaulich erläutert Leonhard so blumige Schöpfungen wie »Gelber-Fluss-Kapitalismus«, »Perlfluss-Kapitalismus«, die »grüne Katze« usw. und stellt sie in Zusammenhang mit bekannten chinesischen Wissenschaftlern, die die Veränderungen in China in den vergangenen drei Jahrzehnten geprägt und begründet haben.

Das ist das große Verdienst des Buches: Leonhard rückt chinesische Wissenschaftler wie Pan Wei, Zhang Zhiying, Yu Keping oder Zheng Bijian und viele andere mehr ins westliche Bewusstsein. Die Namen von diesen herausragenden chinesischen Denkern und Strategen und die von ihnen vertretenen Theorien sind im Westen bislang nur Insidern und Spezialisten bekannt. Sie haben aber ein Land geprägt, in dem ein Fünftel der Weltbevölkerung lebt und das immer größeren Einfluss bekommt. Nach der Lektüre ist dem Leser klar, dass außenpolitische Theoretiker und Strategen wie Zheng Bijian mindestens in einem Atemzug mit Henry Kissinger genannt werden müssen – nur dass eben ersteren (noch) kaum jemand im Westen kennt. Leonhard versucht in seinem Buch, diesen Mangel zu beheben. Das gelingt ihm dann auch in großen Teilen.

Von Vorteil dabei ist, dass der Autor nicht nur die Theorien und wissenschaftlichen Arbeiten wichtiger chinesischer Denker kennt, sondern selbst mit ihnen gesprochen bzw. zeitweise zusammengearbeitet hat. Im Anhang des Buches sind lobenswerterweise alle chinesischen Personen kurz zusammengefasst noch einmal vorgestellt, so dass der westliche Leser sich im Dschungel der fremdartigen Namen orientieren kann. Glaubhaft ist auch, wenn Leonhard versichert, dass die Arbeiten der in dem Buch genannten Personen direkten Einfluss auf die Politikgestaltung in China haben. Auch wenn es in China zuweilen noch schwer fällt, letzteres nachzuprüfen und schlüssig nachzuweisen, finden sich in der politischen Praxis der letzten 30 Jahre in China genügend Beispiele dafür.

Leonhard zitiert im Westen vielbeachtete Experimente, wie z. B. mit Basisdemokratie in der Provinz Sichuan oder Bürgerbeteiligung in Ningbo und nennt die Theoretiker, die derartige Experimente begründet und angeschoben haben. Er kommt zu interessanten Erkenntnissen, die leider jedoch zuweilen auch arg in Gemeinplätzen stecken bleiben. Jetzt, da es langsam auch dem letzten auf dem östlichen Auge blinden »Westler« dämmert, dass im Fernen Osten etwas Neues herangewachsen ist und weiter heranwächst, ist die Feststellung, China gehöre zur Gruppe der Weltmächte, wenig überraschend. Aber dort, wo der Autor versucht, derartige Feststellungen zu hinterfragen und weiter auszuargumentieren, werden interessante Argumente geboten.

So etwa, wenn im zweiten Teil auf Chinas Außenpolitik und seine neue Stellung in der Welt eingegangen wird. Da kommt der Autor – fast beiläufig – zu der Schlussfolgerung, dass Chinas Entwicklung von immer mehr Ländern und Politikern als Konkurrenzmodell für das westliche Wertesystem verstanden wird. Er belegt das damit, dass der Erfolg Chinas in Teilen der Welt bereits als der Abstieg des Westens wahrgenommen wird. Dabei zeigt Leonhard anschaulich, wie die neuen außenpolitischen Strategien auf traditionellen chinesischen Denkweisen beruhen. Gleichzeitig mahnt er, dass der Westen bisher darauf keine Antwort hat.

Wie so manch anderer »Zufallssinologe« übersieht Leonhard dabei jedoch die Fallstricke chinesischen Denkens und Handelns: Er hat fast nur mit Wissenschaftlern gesprochen, die über längere Zeit in amerikanischen oder anderen westlichen Universitäten ausgebildet worden sind oder dort über längere Zeit gelehrt bzw. gearbeitet haben. Seine Gesprächspartner sind alle offenbar sehr gut mit westlichem Denken vertraut. Sie haben Leonhards Wissbegier über China bestens bedient und ihm gleichzeitig ihre eigenen Auffassungen als die allein gültigen und ausschlaggebenden präsentiert. So kommt es, dass in der von Leonhard dargestellten chinesischen Gedankenwelt so wunderbar passende und griffige Bilder, Begriffe und Allegorien vorkommen, die jeder im Westen versteht und die wir auch einordnen können. Aber: Wenn alles so schön passt, besteht die Gefahr, wesentliches zu übersehen.

Alles in allem: »Was denkt China?« ist ein lobenswerter Versuch. Erwarten kann man natürlich nicht, dass diese Frage bei dem begrenzten Umfang in all den millionenfachen, milliardenfachen Möglichkeiten beantwortet wird. Die Lektüre ist dennoch unbedingt zu empfehlen, denn sie bringt China ein Stück näher. Es ist ein lesenswertes Buch, mit dem man die großen Veränderungen in China besser verstehen lernt und Appetit auf mehr bekommt. Das ist das Verdienst von Mark Leonhard, vom dem man gern mehr lesen und hören möchte.

Mark Leonhard: Was denkt China? dtv, München 2009. 198 S., br., 14,90 €.
Der Rezensent ist Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Peking.

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