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Genetik kontra Solidarsystem?

Maßgeschneiderte Therapien kosten viel Geld und sind wenig erforscht

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 3 Min.
Individualisierte Medizin wird als Konzept der Zukunft gepriesen: Möglichst viele biologische, auch genetische Daten sollen pro Patient erfasst werden und sowohl die Wahrscheinlichkeit von Krankheiten als auch deren Verlauf und das Ansprechen von bestimmten Therapien vorhersagbar machen.

Obwohl noch nicht geklärt ist, welche biologischen Marker zu welchen Leiden führen können, ist die Debatte um individuell maßgeschneiderte Heilungskonzepte schon da. Der Teltower Kreis, ein Bündnis von Pharma- und Kassenvertretern, das sich als »Ideenschmiede« versteht, versuchte kürzlich in Berlin, die Belastbarkeit des Solidarsystems durch den neuen Ansatz einzuschätzen.

Für Ivar Roots, Pharmakologe von der Berliner Charité, geht es zunächst um die schrittweise Anwendung genetischer Kenntnisse auf die Therapie mit Arzneimitteln. Die Ursachen für die sehr unterschiedliche Medikamentenwirkung seien in zwei Richtungen zu suchen: In der Überlagerung der Wirkstoffe bei der Gabe mehrerer Mittel und in den genetischen Unterschieden der Patienten. So habe sich etwa der Blutverdünner Clopidogrel bei der Mehrheit der Behandelten nach Herzinfarkt und Stent-Operation bewährt. Im Körper von drei Prozent der Bevölkerung werde das Medikament aber nicht in den eigentlichen Wirkstoff umgewandelt. Theoretisch könnte vor Verschreibung des Mittels mit einem Test das entsprechende genetische Merkmal gesucht werden – gegenwärtige Kosten etwa 500 Euro. Um derartige Tests nicht immer zu wiederholen, schwebt dem Forscher Roots für die Zukunft ein einmaliger Scan von 10 bis 50 000 Genen bei jedem Menschen vor. Das Ergebnis dieser Untersuchung – geschätzter Aufwand heute zwischen 1000 und 10 000 Euro – könnte dem Patienten zu seinen Unterlagen gegeben werden. Schon bei der theoretischen Überlegung, zu welchem Lebenszeitpunkt dieser Test durchgeführt werden sollte, zeigen sich die ethischen Fußangeln. Sollte das gleich nach der Geburt sein, stellt sich die Frage, ob das Recht der Eltern auf dieses Wissen vor dem Recht des Kindes (bzw. des späteren Erwachsenen) auf Nichtwissen rangiert.

Der Theologe und Soziologe Peter Dabrock aus Marburg warnt davor, die heutigen technischen Möglichkeiten bei der genaueren Klärung der biomedizinischen Grundlagen des Einzelnen zu überschätzen. Hier würden Dinge vorgegaukelt, die noch nicht umsetzbar seien, aber die Verteilung von Forschungsgeldern schon beeinflussen könnten. Zu bedenken sei außerdem, dass der absehbare Einsatz hochspezialisierter Instrumentarien eine große Anfälligkeit für Fehler berge.

Frank-Ulrich Montgomery, Vizepräsident der Bundesärztekammer, sorgt sich zwar für den Fall, dass zukünftig hochindividuelle Therapieverfahren aus Kostengründen nicht angeboten würden, ähnlich wie bereits heute Medikamente für seltene Krankheiten fehlten. Dennoch erscheint ihm die Individualisierung auch als eine Chance, »wenn sie wissenschaftlich sauber abgeklärt ist« und möglichst in Behandlungsleitlinien mündete. Für den Ethikprofessor Dabrock sind die Kosten dann keine Frage, wenn der neue Ansatz sich als zweckmäßig erweise. Eventuell müsse die Bevölkerung dann vor Krankenversicherern geschützt werden, die aus bestimmten genetischen Merkmalen teurere Tarife ableiten würden.

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