Wenn ein Kind sich bekleckert

Jean-Louis Fournier begegnet Rührseligkeit mit schwarzem Humor

  • Jenny Becker
  • Lesedauer: 3 Min.

Wer über behinderte Kinder spottet, muss ein Unmensch sein. Oder ein verzweifelter Vater. Jean-Louis Fournier ist letzteres. Für ihn gab es »den Weltuntergang im Doppelpack«. Sein Sohn Mathieu kam schwer behindert zur Welt. Zwei Jahre später zerstörte auch Thomas die Hoffnung auf Vaterstolz und Familienglück: Er ist ebenso behindert wie sein Bruder. Natürlich müssen Eltern ihre Kinder bedingungslos lieben. Wie schwer das manchmal fällt, beschreibt Fournier in seinem Roman »Wo fahren wir hin, Papa?«. Von überambitionierter Feinfühligkeit, die das Sprechen über Behinderte oft begleitet, ist hier keine Spur: »Mathieu hat nicht viel Ablenkung. Er sieht nie fern, ist auch nicht nötig, er hat's auch so zum geistig Behinderten gebracht.« Der Rührseligkeit seiner Situation begegnet Fournier mit rabenschwarzem Humor. Das ist erfrischend, wahrscheinlich, weil über ein so schweres Thema normalerweise nicht gelacht werden darf.

Schonungslos legt Fournier all die furchtbaren Gedanken offen, die ein Vater nicht haben sollte und schreibt sich damit Selbstmitleid und Schuldgefühle von der Seele. Schon zu Beginn des Buchs, das Züge eines Briefromans trägt, gesteht er seinen Söhnen: »Ich war kein sonderlich guter Vater. Oft konnte ich euch nicht ertragen.« Wenngleich Fourniers bitterer Spott keinen Halt macht vor den unschuldigen Söhnen, »die nur Stroh im Kopf« haben, bestehen kaum Zweifel an seiner Zuneigung. Durch die Risse des trockenen Humors ist tiefer Schmerz erkennbar. Über geplatzte Träume und das Leid seiner Kinder. Über Mathieus frühen Tod. Und die Ironie des Schicksals. Mit Fünfzehn ging Mathieu gebeugt wie ein alter Bauer, seine Wirbelsäulenverkrümmung zwang ihn unerbittlich gen Boden. Eine Operation sollte Abhilfe schaffen. »Drei Tage später stirbt er, aufrecht. Letztlich kann man sagen: die Operation, die ihm erlauben sollte, den Himmel zu sehen, ist geglückt.«

Jean-Louis Fournier liefert in dem schmalen Band keine dichten Beschreibungen, sondern tagebuchartige Gedankenfetzen, die mitunter gerade mal eine halbe Seite füllen. Er spart viel aus und löst sich so von seiner privaten Geschichte. Dass er und seine Frau schließlich eine völlig gesunde Tochter bekamen, erwähnt er ebenso flüchtig wie die spätere Scheidung.

»Wo fahren wir hin, Papa?« ist eine Karikatur, die das wahre Leben mit Mathieu und Thomas ins Groteske überspitzt. Auf die fiktiven Anklänge der Erzählung weist Agnès Brunet, die Mutter von Mathieu und Thomas, eigens auf einer Webseite hin, mit der sie ins Licht rücken will, was die Darstellungen ihres Ex-Mannes verzerrten. Denn Mathieu und Thomas waren längst nicht die unfähigen Tölpel, zu dem das Buch sie macht. Womöglich ist die Übertreibung notwendig gewesen – wer hätte Fournier sonst den bitteren Humor verziehen, mit dem er über die eigenen Kinder schreibt?

In Frankreich wurde »Wo fahren wir hin, Papa?« zum Bestseller und erhielt den Prix Femina 2008. Zugleich löste das Buch eine Debatte aus. Kein Wunder, denn Fourniers Zynismus provoziert – und entlarvt unangebrachte Konventionen. »Der Vater eines behinderten Kindes muss mit leichenbitterer Miene durch die Welt laufen«, schreibt der Schriftsteller. »Er hat nicht das Recht zu lachen, das wäre ja geschmacklos.« Treffend bemerkt er: »Wenn ein Kind sich beim Essen mit Schokopudding beschmiert, lachen alle; wenn das Kind behindert ist, lacht keiner.«

Mit »Wo fahren wir hin, Papa?« wehrt sich Jean-Louis Fournier gegen dieses falsche Taktgefühl: Man darf »behinderte Kinder nicht auch noch des Luxus berauben, uns zum Lachen zu bringen«.

Jean-Louis Fournier: Wo fahren wir hin, Papa? Aus dem Französichen von Nathalie Mälzer-Semlinger. dtv. 156 S., brosch., 13,90 €.

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